Forgotten
hübscher werde, während Carley nie wieder in ihrem Leben so gut aussehen wird wie jetzt, setzt mir ihre Bemerkung zu. Gerade als mir voller Entsetzen klarwird, dass ich kurz davor bin, vor einer Gruppe von Cheerleadern loszuheulen, packt mich jemand an der Hand.
»Komm, wir gehen«, sagt Jamie leise und zieht mich um die Gruppe herum zu meinem Schließfach.
»Ich kapier’s nicht«, sage ich leise. »Was hat sie nur gegen mich?«
Jamie schüttelt bloß den Kopf, während sie mein Zahlenschloss für mich öffnet. Ich räume meine Tasche aus und hole ein paarmal tief Luft, um mich wieder zu beruhigen. Jamie lehnt sich gegen das benachbarte Schließfach und sieht, wie ich plötzlich feststelle, ganz schön … na ja, nuttig aus.
»Hey, Schnecke«, ruft Jason Rodriguez ihr zu, als er an ihr vorbeigeht. »Geile Stelzen.«
»Danke schön«, sagt sie und klimpert mit den Wimpern.
Ich betrachte meine Freundin nachdenklich. Einerseits wünsche ich mir manchmal, ein bisschen mehr wie sie zu sein, andererseits mache ich mir Sorgen um sie, und das obwohl ich in die Zukunft sehen kann. Jamie ist bildschön, ohne etwas dafür tun zu müssen – ein typisches Surfergirl (Aber sie würde sich niemals freiwillig auf ein Board stellen.). Ihre kinnlangen dunkelblonden Haare sehen immer aus, als hätte sie sie in Salzwasser gewaschen und dann an der Sonne trocknen lassen. Ihre Augen sind so grün wie der Ozean. Sie ist dünn wie ein Model und zeigt gerne ihre langen Beine. Heute zum Beispiel in einem Mikromini ohne Strumpfhose. Im Oktober.
Einige Meter weiter beobachte ich, wie Jason und sein Freund sich abklatschen. Ich will gar nicht wissen, ob das was mit Jamie zu tun hat. Jamie wird ihr Leben lang ein Mädchen sein, das alle Jungs lieben – zum Flirten, nicht für Beziehungen – und das alle Mädchen hassen. Und ich werde mein Leben lang ihre einzige Freundin sein.
»Und? Wie war’s beim Onkel Doktor?«, erkundigt sie sich. »Ich kann nicht glauben, dass du schon wieder hingefallen bist. Du bist so ein Tollpatsch.«
»Danke schön«, sage ich säuerlich. »Beim Arzt lief alles gut. Er hat nicht viele Fragen gestellt, also musste ich so gut wie gar nicht lügen.«
»Na, immerhin.«
»Hm«, sage ich und krame mein Spanischbuch hervor. »Und? Wie läuft’s bei dir so bis jetzt?«
»Zum Kotzen«, sagt Jamie, als ich meine Schließfachtür zuschlage. »Ich muss nachsitzen.«
»Was? Weshalb denn?«
»Wir hatten einen Test in Geschichte, und ich hab vergessen zu lernen, also hab ich ganz kurz mal auf Ryans Zettel geschaut, und auf einmal steht der Burgess vor mir. Das Ende vom Lied: zwei Wochen lang Nachsitzen, um sieben Uhr morgens! Das ist so was von unfair!«
Sie erwartet keine Antwort von mir, sondern redet gleich weiter. »Ich weiß nicht mal, wo ich nachsitzen soll. Das muss ich unbedingt heute noch rausfinden – ich hab keine Lust, hier morgen früh im Halbschlaf durch die Gänge zu irren.«
Eine Sekunde lang ist Jamie still, dann fällt ihr etwas ein. »Hey!«, sagt sie und knufft mich in den Arm. »Warum hast du mich eigentlich nicht gewarnt? Du musst doch gewusst haben, dass der Burgess mich beim Schummeln erwischt.«
»Keine Ahnung«, sage ich. »Das stand heute Morgen nicht auf meinem Zettel. Sorry.«
»Na ja, macht nichts. Irgendwann ist immer das erste Mal.«
Wir lachen, und ich denke daran, dass dies nicht das letzte Mal sein wird, dass Jamie nachsitzen muss. Es wird allerdings das erste Mal sein, dass sie mit Mr Rice flirtet, der die Nachsitzer beaufsichtigt. Ich weiß jetzt schon, dass sie eine Affäre mit ihm anfangen wird. Und ich weiß auch, wie diese Affäre enden wird: in seiner Scheidung und Jamies Verbannung in ein Erziehungslager für Mädchen, in dem sie mit Unterstützung von selbstverfasster Lyrik, Töpfern und Jesus den Unterschied zwischen Richtig und Falsch lernen soll.
Jamie plappert munter weiter, während wir uns auf den Weg zu Spanisch machen. Manchmal muss es ein Segen sein, nicht zu wissen, was kommt.
Heute sind wir zwei ausnahmsweise mal fast gleich groß, weil ich hochhackige Stiefel trage, aber Jamie geht trotzdem aufrechter und mit viel mehr Selbstsicherheit. Sie sieht den vorbeigehenden Schülern ins Gesicht, während ich immer nach unten schaue, mir die Schuhe ansehe, die an mir vorbeischlurfen, und zu erraten versuche, wer sie trägt.
Weiße Crosstrainer mit Nike-Logo und Schnürsenkeln in Rot, passend zu unseren
Weitere Kostenlose Bücher