Forgotten
sieht. Schüler tuscheln aufgeregt. Carley Lynch steht ganz vorne in der großen Halle und lässt sich von ihrem Hofstaat trösten.
Es ist alles ein bisschen beunruhigend.
Als ich zu Spanisch komme, sehe ich, dass Jamie schon da ist. Sie sitzt vornübergebeugt auf ihrem Platz, das Kinn auf dem Arm, und starrt vor sich hin. Sie sieht aus, als hätte sie geweint.
»Was ist denn los, J?«, frage ich und rutsche neben sie auf meinen Stuhl.
»Was glaubst du denn?«, antwortet sie, ohne aufzusehen.
Ich rufe mir die Ereignisse der kommenden Tage und Wochen ins Gedächtnis: das Getuschel in den Gängen. Ein Gerichtssaal. Eine Verurteilung.
Und lüge.
»Keine Ahnung, Jamie. Aber Streit hin oder her, du kannst mit mir drüber reden. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.«
Jamie sieht mich mit rotgeränderten Augen und tränenfleckigem Gesicht an, sagt aber nichts.
Es klingelt. Die Garcia hat einen spanischen Film mitgebracht, den sie einlegt. Nach ein paar Minuten dreht sich Jamie erneut zu mir um.
»Wir wurden erwischt«, murmelt sie. Wieder sehe ich Tränen in ihren Augen glänzen. »Die Polizei war heute Morgen da und hat ihn verhaftet. Carley Lynch, diese Mistschlampe, hat’s dem Direktor gesagt. Gib’s ruhig zu, das ist die beste Nachricht, die du heute bekommen hast.«
Ich halte ihren Blick fest. »Ist es nicht«, sage ich aufrichtig. »Es tut mir leid, Jamie, ehrlich.«
Sie schaut weg und sagt eine Zeitlang nichts. Dann flüstert sie so leise, dass ich sie kaum verstehen kann: »Ich glaub dir kein Wort«, und lässt das Kinn wieder auf die Arme sinken.
Ich erinnere mich an meine Aufzeichnungen, in denen ich Jamies ausdrückliches Verbot festgehalten habe, mit ihr über ihre Zukunft zu sprechen. Aber wenn es einen Zeitpunkt gibt, an dem ich mir erlauben darf, eine klitzekleine Ausnahme zu machen, dann jetzt.
»Jamie«, flüstere ich. »Es wird alles gut. Versprochen.«
*
Mittagspause. Luke und ich gehen Hand in Hand über den Parkplatz. Ausnahmsweise ist es vollkommen windstill, und das macht mich noch kribbeliger, als ich ohnehin schon bin. Das Wetter ist viel zu zahm für so einen turbulenten Tag.
»Ich kann nicht fassen, dass es rausgekommen ist«, sage ich zu Luke, als wir in seinen Van steigen.
»M-hm«, meint er mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht.
»Was ist?«
»Nichts.«
»Sie tut mir so leid. Ich meine, ich hab meine Aufzeichnungen gelesen. Ich hab mich ja wohl ziemlich aufgeregt wegen der Sache. Aber dass er deswegen in den Knast wandert … Und die arme Jamie. Sie muss vor Gericht aussagen. Alle werden sich über sie lustig machen. Das weiß ich schon ganz genau.«
»Es gibt Schlimmeres, woran du dich erinnern könntest«, meint Luke.
»Ich erinnere mich durchaus an Schlimmeres«, entgegne ich, als ich an den Zettel über meinen Bruder denke, den ich heute Morgen gelesen habe. Im Vergleich dazu kommt mir Jamies Affäre nicht so weltbewegend vor.
»Gut, dass bald Sommerferien sind«, sage ich.
»Wieso?«, fragt Luke, als wir vom Parkplatz fahren.
»Nächstes Jahr ist Gras über die Sache gewachsen, und Jamie ist wieder die Alte. Wenigstens fast.« Ich seufze schwer, weil ich weiß, was kommen wird.
»Das Wetter ist so schön.« Luke wechselt das Thema. »Würde ein Picknick deine Laune verbessern?«
»Und ob«, sage ich und stelle mir vor, neben ihm im Gras zu liegen und ihn eine ganze Mittagspause lang anzuschmachten.
»Sollen wir Jamie fragen, ob sie mitkommt?«, fragt Luke.
»Du bist so lieb. Das ist eine Superidee.« Ich fische mein Handy aus der Tasche und schreibe Jamie eine SMS . Sie schreibt sofort zurück. Fortschritt!
B in zum Essen zu Haus; hab ein Buch vergessen. Aber danke. Bedeutet mir viel.
Ich lächle und antworte ihr. Gern geschehen, J.
»Und? Kommt sie?«, fragt Luke.
»Nein, du wirst dich mit mir begnügen müssen.«
*
Zehn Minuten später sitze ich in Lukes Van auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt und warte, während er unser Mittagessen einkauft.
Wenn er sich doch nur ein bisschen beeilen würde …
Die Frühlingssonne knallt durch die Windschutzscheibe, und die Hitze und die Stille im Wagen lassen meinen Atem immer langsamer werden. Meine Gliedmaßen werden ganz schwer, und die Welt verschwimmt ein bisschen vor meinen Augen. Wie durch einen Schleier beobachte ich eine junge Mutter, die mit ihrem Baby auf dem Arm in den Laden geht und wenige Minuten später mit einem Paket Windeln wieder rauskommt. Als Nächstes eilen ein großer
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