Forgotten
mich an sie erinnern.«
Meine Mom sieht mich schockiert an, was mich ehrlich gesagt nicht überrascht.
»Sie?«
»Es waren zwei. Ein Mann und eine Frau. Ich sehe sie ganz deutlich vor mir. Ich kann der Polizei helfen, sie zu finden.«
»Jetzt mal alles der Reihe nach, Liebes.« Mom setzt sich neben mich auf die Couch. »Erzähl mir erst mal, was passiert ist.«
Ich tue es und fange prompt wieder an zu weinen. Es war alles meine Schuld.
»Schatz«, raunt Mom und streicht mir beruhigend übers Haar. »Ganz ruhig. Du hast nichts falsch gemacht.«
»Hab ich wohl!«, schluchze ich in meiner Verzweiflung. »Ich hab die Verriegelung geöffnet! Ich bin dran schuld, dass er entführt wurde! Ich bin dran schuld, dass er tot ist!« Ich ziehe mir die Decke wieder vors Gesicht und weine und weine, bis ich keine einzige Träne mehr übrig habe.
»Schhh«, sagt meine Mom immer wieder. »Schhh.« Am liebsten würde ich sie einfach wegschieben. Ich habe ihren Trost nicht verdient. Wie kann sie mich überhaupt noch mögen, obwohl sie weiß, dass ich schuld daran bin, dass Jonas tot ist?
Wenn sie erst den Rest der Geschichte hört …
»Mom. Das ist noch nicht alles«, schniefe ich, als ich wieder einigermaßen sprechen kann. So schrecklich die Erinnerung an Jonas’ Entführung auch ist, die Sache liegt in der Vergangenheit. Passiert ist passiert. Was ich meiner Mom noch nicht erzählt habe, ist der Teil der Geschichte, der noch passieren wird . Und die Erinnerung daran lastet so schwer auf mir, dass ich das Gefühl habe, darunter zu zerbrechen.
»Was denn, Schatz?«, fragt Mom in leisem, beruhigendem Tonfall, schiebt mir die Haare aus dem Gesicht und wischt mir die Tränen weg, auch wenn immer wieder neue nachkommen. »Du kannst mir alles sagen.«
Ich muss es unbedingt loswerden, ich halte es nicht mehr länger aus, also öffne ich mühsam den Mund und krächze: »Luke wird auch sterben.«
Und mit extrem leiser Stimme, so dass Mom sich ganz dicht zu mir beugen muss, um mich überhaupt zu verstehen, erzähle ich ihr, was die Erinnerung an Jonas’ Kidnapper in meinem Gedächtnis sonst noch zum Vorschein gebracht hat.
Es wird in ungefähr fünf oder sechs Jahren passieren – meinem Spiegelbild nach zu urteilen, das ich kurz in einer Schaufensterscheibe sehen kann. Ich befinde mich in einer Straße, die ich nicht kenne. Luke ist bei mir.
Ich halte einen Zettel mit einer Adresse in der Hand, und vor genau diesem Haus stehen wir nun. Wir beobachten die Tür so lange, bis schließlich jemand rauskommt.
Ein Mann verlässt das Backsteingebäude. Er trägt Designerschuhe und ein Jackett und sieht gar nicht aus wie ein Kidnapper und Mörder. Aber ich kenne die Wahrheit.
Der Mann biegt zu Fuß in eine Seitenstraße ein und von da aus in eine schmale Gasse. Aus Neugier beschließen wir, ihm hinterherzugehen, obwohl wir das ursprünglich gar nicht vorhatten. Eigentlich hatten wir verabredet, die Sache der Polizei zu melden, aber daran denken wir in diesem Moment nicht mehr.
Wir biegen um eine Ecke und dann um die nächste und die nächste, und plötzlich haben wir das belebte Stadtviertel hinter uns gelassen, und allmählich wird uns ein bisschen mulmig. Luke und ich beschließen, unauffällig den Rückzug anzutreten, aber es ist zu spät.
Der Mann hat uns bemerkt.
Er dreht sich um und schnauzt uns an: »Was wollt ihr?« Er muss betrunken sein oder high, jedenfalls wirkt er ziemlich aggressiv.
Ein paar Sekunden lang sagen wir gar nichts. Was ich dann mache, würde perfekt in einen Horrorfilm passen – und zwar zu der Figur, bei der man die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und sich fragt, wie um alles in der Welt die nur so dämlich sein kann.
»Sie haben meinen Bruder entführt!«, rufe ich anklagend. Worte, die ich im nächsten Augenblick am liebsten wieder runtergeschluckt hätte.
»London!«, zischt Luke warnend und packt mich an der Hand. Wenigstens einer, der noch alle Sinne beisammenhat.
»Ach ja?«, sagt der Mann gedehnt und kommt langsam auf uns zu.
Ich weiß mit jeder Faser meines Körpers, dass wir in großer Gefahr schweben. Ich habe etwas unfassbar Dummes gesagt.
Der Mann kaut auf einem Zahnstocher herum. In aller Seelenruhe lässt er ihn von einem Mundwinkel in den anderen wandern.
Instinktiv macht Luke einen Schritt nach vorn, um sich vor mich zu stellen. Der Abstand zwischen uns und dem Mann beträgt höchstens noch drei Meter.
»Komm, lass uns gehen«, sage ich leise zu Luke, mache einen
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