Forgotten
hagerer Mann und eine kleine Frau durch die automatische Tür, der Mann wirft im Gehen einen Blick auf seine Uhr. Zwei kleine Jungen laufen über den Parkplatz und verschwinden im Supermarkt. Ich frage mich flüchtig, wo wohl ihre Eltern sind, und lasse meinen müden, schweren Kopf ganz langsam nach links kippen.
Ein Gesicht an der Scheibe lässt mich vor Schreck zusammenfahren und katapultiert mich jäh wieder in die Realität zurück.
In einer Minute wird mir klarwerden, dass es sich bei der Frau höchstwahrscheinlich um die Mutter der beiden Jungs handelt, die ich eben gesehen habe. In einer Minute wird mir auffallen, dass ihr Van gleich neben unserem parkt und fast genauso aussieht wie Lukes und dass sie bloß mal »einen Blick auf das neue Modell werfen« wollte, wie sie mir als Erklärung zuruft, um mich zu beruhigen. In einer Minute wird sich mein Puls wieder halbwegs normalisiert haben.
Aber jetzt bin ich wie erstarrt. Aus irgendeinem Grund jagt mir das rundliche Gesicht der Frau im Fenster, eingerahmt von ihren Händen, damit sie durch die getönten Scheiben ins Innere spähen kann, Todesangst ein. In panischer Hast verriegle ich die Türen und rutsche weg vom Fenster, in die Mitte des Wagens, damit die Fremde mich nicht holen kommt.
Fremde?
Mich holen kommt?
Noch während mir diese Gedanken durch den Kopf schießen, weiß ich, dass sie verrückt sind. Dass ich total überreagiere.
Aber dann macht etwas klick.
Ich sehe mich als kleines Mädchen in einem Wagen sitzen. Mein Vater ist irgendwo auf der anderen Seite des Parkplatzes, er ist losgegangen, um einen Einkaufswagen zu holen. Mir gegenüber sitzt ein Kleinkind in seinem Kindersitz. Mein Bruder Jonas. Ich spiele »Kuckuck« mit ihm, und er jauchzt vor Vergnügen.
Plötzlich klopft eine Frau auf meiner Seite an die Scheibe. Sie sieht nett aus und hat ein freundliches Lächeln im Gesicht.
»Hallo! Ich bin eine Bekannte von deiner Mommy«, sagt sie durch das geschlossene Fenster. »Machst du mal die Tür auf, damit ich euch guten Tag sagen kann? Dann könnt ihr euch auch meinen kleinen Hund ansehen«, fügt sie hinzu und hält eine Tragetasche hoch, in der ein winziges Hündchen sitzt.
Ich liebe Hunde, vor allem kleine Hunde.
Ich lasse meinen Sicherheitsgurt aufschnappen. Als ich zwischen den Sitzen nach vorn klettere, um den Knopf für die Zentralverriegelung zu drücken, sehe ich meinen Dad vorne bei den Einkaufswagen. Alles klar, er ist in der Nähe. Bestimmt freut er sich auch, Mommys Bekannte zu sehen.
Manchmal darf ich in der Garage so tun, als würde ich Auto fahren, deswegen weiß ich, wie die Türen aufgehen. Ich drücke den Knopf, die Schlösser klicken.
Bevor ich den Mann sehe, höre ich Jonas losbrüllen. Er hat Angst vor Fremden. Ich wirble herum und sehe gerade noch, wie ein fremder Mann ihn aus seinem Sitz zerrt. Das gefällt ihm gar nicht, er plärrt und zappelt und tritt wie wild um sich.
Dann wird sein Gebrüll immer leiser, weil der Mann mit ihm wegrennt.
»Daddy!«, schreie ich, so laut ich kann, als ich sehe, wie die Frau und der Mann Jonas in einen Van setzen. Eigentlich darf ich auf dem Parkplatz nicht allein aussteigen, aber diesmal ist mir das egal. »Daddy!« Ich schreie und schreie, bis er mich endlich hört und angelaufen kommt.
Daddy hört sich meine hastig hervorgestoßene Erklärung an, dann sagt er mir, ich soll einsteigen. Kaum sitze ich im Wagen, gibt er Gas, und wir verfolgen den Van, aber dann stoßen wir mit einem anderen Auto zusammen, und an mehr kann ich mich nicht erinnern.
Als Luke wiederkommt, ist mein Gesicht tränenüberströmt.
»Fahr mich nach Hause«, sage ich nur, und er tut es.
41
»Geht es dir gut?« Besorgt kommt Mom zu mir gelaufen. Als sie den Sessel erreicht, auf dem ich zusammengekauert dasitze, in eine Decke gewickelt, um mich vor der Welt abzuschirmen, legt sie instinktiv die Hand an meine Stirn.
»Ich hab kein Fieber«, sage ich und schüttle ihre Hand ab. »Es geht mir gut. Ich brauch bloß deine Hilfe.«
Sie tritt einen Schritt zurück und sieht mich abwartend an. Sie ist gerade von der Arbeit gekommen und trägt noch ihr dunkles Kostüm und die hochhackigen Schuhe.
»Okay …«, sagt sie.
»Wir müssen zur Polizei«, verkünde ich fest, aber mit gedämpfter Stimme, weil ich die Decke bis über den Mund hochgezogen habe. Ich schiebe sie weg und setze mich auf.
»Wieso müssen wir denn zur …«
»Ich weiß, wer es war. Ich weiß, wer Jonas entführt hat. Ich kann
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