Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)

den Wald, bis ich zu diesem Irrgartenscheiß zurückkomme.
Oder auf ’ne richtige Straße. Also, viel Spaß noch in Mittelerde!“
    „In den Wald? Da verläufst du dich doch nur noch mehr!
Die Straße unten wäre besser. Da kommt auf jeden Fall irgendwann ein Auto
vorbei“, gab Carmino zu bedenken, hob einen Apfel auf und inspizierte ihn auf Wurmlöcher
und Schneckenspuren.
    „Ach ja? Wann hast du das letzte gesehen?“
    „Gestern. Der grüne Van oder Bus oder was das war. Der
mir vor der Nase abgehauen ist.“ Er versenkte die Zähne im Apfel. „Den Waldweg
da hat James doch gestern schon stundenlang abgesucht und nichts gefunden!“
    Nichts stimmt nicht ganz, dachte James.
    „Die Straße sind wir auch ewig entlanggegangen und
nirgends angekommen!“
    „Klar. Weil wir in Mittelerde sind. Oder in der
Matrix“, gab Carmino zurück, mit einem fetten Grinsen und dem Mund voller
Apfel.
    „Dann verrotte da!“ Pix wandte sich verachtungsvoll ab
und marschierte los. James und Carmino folgten ergeben. Zumindest führte der
Weg in die Richtung, in der Wokenduna lag.
     
    2
    Aber
war es wirklich die richtige Richtung? Viertelstunde um Viertelstunde verging,
sie liefen hügelauf, hügelab, folgten immer diesem sich schlängelnden Pfad, der
manchmal kaum zu erkennen war. Den Hang, der rechter Hand zur Straße abfiel,
behielten sie dabei im Auge. Zur Orientierung, um nicht noch tiefer in diesen
Wald zu geraten – aber auch, weil es eine Beruhigung war, die Straße da unten zwischen
den Bäumen zu sehen. Ein Rest von Zivilisation sozusagen.
    Matrix … den
hatten sie damals heimlich gesehen, in dem Keller, in dem zu der Zeit noch Sams
älterer Bruder residiert hatte. Wie alt waren sie da gewesen, zehn, elf?
Während seine Füße lustlos über die Blätter schlurften, unterhielt sich James
mit Erinnerungen. Adrian und Sam hatten wochenlang die Kampfszenen
nachgespielt, und die unzähligen Versuche, mit viel Schwung an der Außenwand
der Sporthalle raufzustürmen, brachten Adrian schließlich einen angeknacksten
Fußknöchel ein. Das war dem Idioten natürlich egal gewesen, Hauptsache,
sämtliche Mädels der Unterstufe schmachteten ihn an. Adrian war immer schon
verrückt gewesen. Schon als sie mit drei Jahren auf dem kleinen Spielplatz am
Ende der Harlequin Lane ihre Autos auf der Sandkasteneinfassung fahren ließen,
hatte er immer die Art von Ideen gehabt, die unweigerlich im lärmenden Chaos
endeten – panisch aufgescheuchte Mütter, Schrammen, blaue Flecken, Hausarrest.
    „Dieses verdammte Scheißteil ! Das gibt’s doch
einfach nicht!“, schrie Pix wütend auf. Sie drückte schon seit Minuten an ihrem
Handy herum.
    „Ich weiß schon, warum ich so ein Ding nicht brauche“,
sagte Carmino, dessen Gangart endlich etwas von ihrer federnden Leichtigkeit
einbüßte.
    „Das weiß doch jeder, der dich kennt! Weil deine
Eltern fünf von euch in die Welt setzen mussten, weil man das bei euch in
Afghanistan oder was weiß ich wo eben so macht, ohne drüber nachzudenken – und
dabei haben sie nicht mal genug Kohle für ’ne Dreizimmerwohnung!“
    „Hallo – kannst du mal die Luft anhalten? Und schmeiß
bloß das Handy nicht noch mal hin!“
    „Armenien, du dämliche Kuh! Und von da ist schon mein
Urgroßvater gekommen, und seitdem leben wir in London! Die Bagratunis sind eine
–“
    „Meine Güte, dein Urgroßvater ! Ich glaub, ich
hab nicht mal einen!“
    „Hätte mich auch gewundert!“
    „Ich dachte, Carmino ist italienisch oder so“,
versuchte James abzulenken, bevor das Hin und Her in Handgreiflichkeiten
ausartete.
    „Meine Mutter ist Halbitalienerin.“
    „Auch das noch!“
    „ Sie hängt jedenfalls nicht an der Flasche!“,
zischte Carmino. Seine Ohren waren rot geworden.
    „Du mieses, mickriges, rattiges Schwein !“,
kreischte Pix und holte mit ihrer Tasche aus, um auf ihn einzuschlagen. James
packte die Tasche im Flug und verfluchte im Stillen Alice und ihr blödes
soziales Engagement. Und sich selbst, weil er bei diesem Ausflug mitgemacht
hatte. Und den Wald. Und die Welt im Allgemeinen.
    Er schwitzte, und jetzt hatte er richtigen Durst. Das pelzige Gefühl im Mund war kaum auszuhalten. Inzwischen war es acht
Uhr vierunddreißig, was bedeutete, dass sie seit unmöglichen anderthalb Stunden
auf diesem Weg hier unterwegs waren, der vor gut einer Stunde allerspätestens
auf Wokenduna Hall hätte treffen müssen . Und dann funktionierte nicht mal
das Handy … vermutlich hatte die das gestern doch