Formbar. Begabt
Stunde vergangen ist, steht Viv schon an der Laterne und wartet auf mich.
»Na los, lass uns noch ein Stück in die Weinberge laufen.«
Einträchtig joggen wir nebeneinander her, jede in ihre Gedanken vertieft. Schon nach kurzer Zeit haben wir die letzten Häuser hinter uns gelassen. Zu unserer Linken befindet sich in ca. einem Kilometer Entfernung der Waldrand, auf der rechten Seite erstrecken sich Reben so weit das Auge reicht. Keuchend lassen wir uns auf die nächste Bank fallen und genießen die Ruhe um uns herum, die nur von unseren schnellen Atemzügen durchbrochen wird.
Schließlich stützt Viv ihre Ellbogen auf die Knie und legt das Kinn in die Handflächen. »In Ordnung. Womit sollen wir anfangen?«
»Gerade komme ich mir richtig blöd vor. Wir sitzen mitten im Grünen und haben vor, meine magischen Kräfte zu prüfen. Schon komisch.«
»Über »komisch« sind wir hinweg, seit du mir die Taschenlampe in die Hände fliegen ließest. Wir sind jetzt eher bei »abgefahren« angekommen. Na los, probiere etwas aus!«
Ich schaue mich suchend um und entdecke einen kleinen Stein, der neben meinem rechten Fuß liegt.
Vorsichtig formuliere ich einen Gedankenimpuls.
Fliege in die Höhe.
Während mich Viv noch mustert, beginnt der Stein langsam nach oben zu steigen, bis er auf der Höhe meiner Augen reglos in der Luft schwebt. Ohne den Befehl abreißen zu lassen, deute ich mit einer fast unmerklichen Bewegung auf das fliegende Objekt vor uns. Viv dreht den Kopf und gibt einen erstickten Laut von sich. Mit großen Augen starrt sie den Stein an und drückt ihren Rücken an die Lehne der Bank, sodass sie ganz gerade sitzt. Ihre Haut hat einen leicht gräulichen Farbton angenommen. Schnell beende ich den ersten Testlauf und lasse den Stein zu Boden sinken. Dann wende ich mich zaghaft an Viv: »Zu viel?«
Sie nickt stumm.
»Entschuldige.«
Längere Zeit bleibt es still zwischen uns.
Als Viv schließlich wieder zum Sprechen ansetzt, klingt ihre Stimme heiser. »Ich habe das unterschätzt. Die Nacht im Zelt kam mir im Nachhinein wie eine Schauergeschichte vor. Ich hatte irgendwie nicht damit gerechnet, dass du es wirklich kannst. Das zieht mir den Boden unter den Füßen weg.«
Beschämt lasse ich den Kopf hängen. Ich hätte wohl genauer darüber nachdenken sollen, wie sie sich fühlt. Stattdessen war ich nur damit beschäftigt, die direkten Auswirkungen auf mich selbst zu analysieren. Ich kann meine Kraft nicht wegwünschen, aber muss ich deshalb meine beste Freundin damit belasten? Wäre es nicht verantwortungsbewusster gewesen, einfach mal die Klappe zu halten? Diese Einsicht kommt leider ein wenig zu spät.
»Ich verstehe dich. Ich kann auch akzeptieren, wenn du vorläufig den Kontakt zu mir abbrechen willst. Mir bleibt keine Wahl. Ich kann diese Fähigkeit nicht einfach abstellen.« Na super, das klang jetzt so, als würde ich in Selbstmitleid versinken. Wie hilfreich.
»Nein, Hannah. Das ist es nicht. Ich habe keine Angst vor dir. Es ist nur so«, sie sucht nach den richtigen Worten, »so absolut unglaublich. Ich kann mir vage vorstellen, wie du dich fühlen musst. Einerseits ist es das Coolste, andererseits das Beängstigendste, was ich bisher erlebt habe. Du solltest herausfinden, wozu du fähig bist.«
Ich soll es herausfinden. Nicht mehr »wir« wie zuvor, nur noch der Singular. Lässt sie mich jetzt schon alleine damit? Es ist Vivs Entscheidung, inwieweit sie in diese Sache mit hineingezogen werden will. Dass sie damit überhaupt umgehen muss, ist mir zuzuschreiben. Gerade ich bin nicht in der Position, über sie zu richten oder ihr Vorwürfe zu machen.
»Es scheint eine Art der Telekinese zu sein – wobei ich bisher nichts anderes ausprobiert habe, als Gegenstände zu manipulieren.«
»Okay. Telekinese also auf jeden Fall. Hast du schon getestet, ob du ebenfalls über telepathische Fähigkeiten verfügst?«
Ich schlucke. »Nein. Daran hatte ich bisher nicht gedacht.«
»Sollen wir es probieren?«
Stumm nicke ich.
Viv legt die Stirn in Falten. »Woran denke ich?«
»An Till?«
»Ja! Das ist richtig!« Sie reißt verblüfft die Augen auf. »Du kannst Gedanken lesen!«
»Ach Quatsch! Ich habe nur geraten und auf etwas Naheliegendes getippt.«
»Sehr witzig«, grummelt Viv. Amüsiert nehme ich zur Kenntnis, dass sich ihre Wangen leicht gerötet haben.
»Komm, lass es uns noch einmal probieren. Konzentriere dich auf etwas.«
Ich fokussiere mich voll auf Vivs Gedanken.
Nichts. Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher