Formbar. Begabt
schlagartig ein, dass ich mich in den kompletten Ferien kein einziges Mal bei Viv nach Till erkundigt habe. Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich meine beste Freundin total vergessen habe. Schnell packe ich sie am Arm und ziehe sie ein Stück von den anderen weg.
»Oh Gott Viv, es tut mir so leid«, flüstere ich.
Sie schaut mich verständnislos an. »Was tut dir leid? Habe ich was verpasst?«
»Ich habe kein einziges Mal gefragt, wie es mit Till läuft. Bitte verzeihe mir.«
»Ach Blödsinn. Mach dir keine Gedanken darum. Ich weiß, was momentan bei dir los ist. Da ist das absolut verständlich. Wir haben uns in den Ferien tatsächlich verabredet, und heute gehen wir direkt nach der Schule gemeinsam Mittagessen.«
»Das freut mich total für dich! Bitte denke nicht, dass mir das egal ist. Ich wünsche dir wirklich das Beste!«
»Das weiß ich doch.« Kurz nimmt sie mich in den Arm, und ich fühle mich ihr nahe wie schon lange nicht mehr.
Bevor der Unterricht beginnt, machen wir einen kleinen Umweg, um zu überprüfen, ob heute möglicherweise unliebsame Stunden ausfallen. Am entsprechenden Aushang ist wenig Betrieb. Scheinbar sind unsere braven Mitschüler bereits auf dem Weg in ihre Klassenzimmer. Nach einem kurzen Blick – Pech gehabt, alle Lehrer da! – setzen wir uns wieder in Bewegung. Unvermittelt spüre ich eine Hand auf meinem Arm, deren Berührung mir Stromstöße durch den Körper jagt. Gleichzeitig bleibt Viv neben mir abrupt stehen und reißt die Augen auf.
Jan.
Jans Hand.
Jans Hand auf meinem Arm.
Ich halte die Luft an.
»Hallo Hannah!«
Viv würdigt er keines Blickes.
Hey, das hatte er doch für mich reserviert!
Ich drehe mich zu ihm um. Er setzt ein Lächeln auf, dann zieht er seine Hand zurück, nickt mir noch einmal zu und verschwindet im nächstgelegenen Flur.
Völlig fertig, verwirrt und überhaupt total neben der Spur lasse ich mich von Viv zu unserem Klassenraum schieben. Rücksichtsvoll sorgt sie dafür, dass ich auf meinem Platz lande und sogar noch die richtigen Bücher auf den Tisch werfe. Ich habe mich getäuscht. Er ist mir ganz und gar nicht egal.
Was um Himmels Willen war das?
Hat er getrunken? Etwas geraucht? Drogen genommen? Zu viele der komischen roten Süßigkeiten vom Hausmeisterkiosk gegessen? Wo war der stechende Blick, der bisher für mich reserviert zu sein schien?
Er hat mich gegrüßt. Und nicht nur mit einem schnöden »Hallo!«, sondern namentlich! Irrtum ausgeschlossen, er hat definitiv mich damit gemeint. In diesem Moment ist mir meine Kraft völlig egal. Zum ersten Mal seit knapp zwei Wochen denke ich nicht daran, was sich in meinem Leben grundlegend geändert hat.
Egal, von welcher Seite ich es betrachte, Jans Verhalten ist befremdlich. Seit unserem ersten zufälligen Treffen strafte er mich ausschließlich mit Verachtung. Noch kein Wort hat er mit mir gewechselt, und nun grüßt er mich nicht nur, sondern verstärkt diese Annäherung zusätzlich mit einer Berührung? Dieser Wandel ist für mich absolut unerklärlich, doch auf Viv ist Verlass. Sie kann direkt mit einer Interpretation aufwarten.
»Möglicherweise hat er Zeit gebraucht, um sich seiner Gefühle bewusst zu werden? Ihr kennt euch noch nicht lange und es ist gerade drei Wochen her, dass du ihm aufgefallen bist. Jetzt hat er eben festgestellt, dass du wirklich in Ordnung bist – ganz meine Meinung, übrigens. Ich bin schon wirklich gespannt, wie es weiter läuft zwischen euch beiden.«
Ja, das bin ich auch.
Der Rest des Schultages verläuft für mich alles andere als entspannt, da ich jede Sekunde mit Jans unverhofftem Auftauchen rechne. Fahrig packe ich nach der letzten Stunde meine Sachen zusammen, lege meinen Füller in das Mäppchen und will gerade den Reißverschluss zuziehen, als es mir unversehens aus der Hand rutscht und sich sämtliche Stifte sowie diverser Kleinkram auf den Boden ergießen. Seufzend tauche ich unter meinen Tisch, um mein Hab und Gut wieder einzusammeln.
Als endlich wieder alles an seinem Platz ist, bin ich die Letzte im Raum. Der Rest der Klasse hat den Saal bereits verlassen. Auch Viv konnte nicht auf mich warten, schließlich ist sie mit Till zum Mittagessen verabredet. Noch während ich mein Mäppchen in den Rucksack quetsche, trete ich auf den Flur hinaus und gebe der Tür hinter mir einen Tritt, sodass sie ins Schloss fällt. Dann hebe ich den Kopf und erstarre in der Bewegung.
Jan steht lässig an die Wand gegenüber gelehnt. Sein
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