Formbar. Begabt
guten Zuhörer braucht.
»Ich verstehe nicht, dass er es auf diese Art gemacht hat. Hat ihm unsere gemeinsame Zeit gar nichts bedeutet? Es kam total überraschend. Wir sind zusammen auf Miris Party gegangen, und er war plötzlich weg. Ohne etwas zu sagen! Ich habe ihn überall gesucht. Dann kam ich ins Zimmer und habe ihn beim Flaschendrehen gesehen. Das macht er sonst nie.« Sie blickt mich resigniert an. »Jetzt weiß ich ja, warum er mitgespielt hat. Wir sind raus in den Garten und da sagt er mir, dass es aus ist. Sonst nichts. Lässt mich stehen, als hätte es die letzten Wochen nicht gegeben. Mistkerl.«
Wenn das wirklich so gelaufen ist, sollte ich bei Jan sehr vorsichtig sein. Das ist definitiv nicht die Art und Weise, auf die man seine Freundin – oder überhaupt irgendjemanden – behandeln sollte. Ich werfe einen Blick auf Denise, die noch immer in sich zusammengesunken auf dem Boden kauert. Sie ist völlig am Ende, und ich habe keine Ahnung, was ich für sie tun kann. Schweigend sitzen wir geraume Zeit nebeneinander und warten, bis sie sich wieder gefangen hat. Schließlich steht sie seufzend auf und klopft sich den Staub von der Hose.
»Es tut mir leid, dass ich auf so dich losgegangen bin. Danke fürs Zuhören.«
Mit diesen Worten dreht sie sich um und geht. Noch lange danach stehe ich im Flur und denke nach. Die ganze Zeit habe ich sie glühend um Jan beneidet und keine Überlegung daran verschwendet, wie sie sich fühlen würde, wenn sein Interesse plötzlich mir gälte. Nun erfahre ich es aus erster Hand. Sie fühlt sich schrecklich. Ich will lieber gar nicht überlegen, welche Folgerungen diese Schlussmachaktion in Bezug auf Jans Charakter zulässt. Hat Denise die Situation falsch dargestellt? Verletzte Gefühle, Eifersucht – sie hätte guten Grund, ihren Exfreund schlecht dastehen zu lassen. Jan ist undurchschaubar. Ich muss mir gut überlegen, wie viele Emotionen ich investieren kann. Wiegt das Zusammensein mit ihm das Risiko, verletzt zu werden, auf?
Mit ca. einstündiger Verspätung mache ich mich auf den Heimweg und kann es kaum erwarten, endlich Viv anzurufen und ihr die neusten Ereignisse zu erzählen. Kaum zu glauben, was alles passiert, wenn wir das Schulgelände getrennt verlassen. Sie wird sich nicht mehr einkriegen, da bin ich sicher. Endlich habe ich wieder etwas zu erzählen, dass nicht meine Kraft zum Inhalt hat! Außerdem möchte ich wissen, wie ihr Mittagessen mit Till gelaufen ist.
Total genervt stehe ich an der Fußgängerampel und warte darauf, dass sie endlich grün wird. Auf der anderen Seite befindet sich ein kleines Mädchen mit einer großen Schultasche auf dem Rücken, das im Gegensatz zu mir geduldig auf das Licht schaut. Ich hasse rote Ampeln. Dieses Rumstehen ist echt ein Sinnbild für verlorene Lebenszeit.
Na los, blödes Teil, nun mach schon.
Endlich springt die Ampel um und ich überquere zügig die Staße.
Jäh werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ein Auto mit quietschenden Reifen knapp neben mir zum Stehen kommt. Der Fahrer drückt lange auf die Hupe und zeigt wild gestikulierend auf die Ampel. Dann macht er eine unmissverständliche Geste, lässt seinen Wagen wieder an und fährt weiter. Ein Blick auf die Fußgängerampel verschafft mir Gewissheit: Definitiv grün, ich hatte also alles Recht dazu, die Straße zu überqueren.
Was für ein Idiot! Der ist mit Sicherheit bei Rot gefahren, ansonsten hätte er mich nicht beinahe umgenietet. Das war eben unfassbar knapp. Wenn er nur eine Millisekunde später gebremst hätte, besäße er eine Gallionsfigur. Kopfschüttelnd laufe ich weiter. So ein blöder Penner sollte echt nicht im Auto auf die Menschheit losgelassen werden! Wahrscheinlich farbenblind und noch dazu unfähig zu erkennen, wo das Lichtchen brennt!
Und dann geht im Gegenzug mir ein Licht auf. Schlagartig bleibe ich stehen. Das Mädchen mit der großen Schultasche wartet noch immer und starrt mich aus großen Augen an. Im Gegensatz zu mir hat sie sich nicht bewegt – weil ihre Ampel nach wie vor die Farbe Rot zeigt.
Trage ich etwa selbst für diesen Beinahe-Unfall die Verantwortung? Habe ich nicht ungeduldig die Ampel gemustert und mir gewünscht, sie würde endlich grün werden? Habe ich nicht sogar den entsprechenden Befehl formuliert? Besteht die Möglichkeit, dass sowohl meine Ampel als auch die des Autofahrers grün war? Seinem Wutausbruch nach zu urteilen fühlte er sich im Recht.
Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken.
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