Formbar. Begabt
Perspektive ich Jans Verhalten betrachte, es ergibt überhaupt keinen Sinn.
Den Morgen verbringe ich in einer Art Dämmerzustand. Aufgrund fehlenden Schlafes fühle ich mich total übernächtigt und habe eher Ähnlichkeit mit einem Zombie als mit einer Sechzehnjährigen, die am gleichen Abend noch eine wichtige Verabredung hat und dabei unglaublich schön aussehen sollte.
Viv scheint mir den gestrigen Streit immer noch nachzutragen. Unsere Gespräche beschränken sich auf das Nötigste, sodass ich froh bin, als ich die Schule verlassen kann.
Immerhin schaffe ich es, mich am Nachmittag hinzulegen und ein paar Stunden Schlaf nachzuholen. Die Klavierstunde fällt heute aus. Meine Lehrerin nutzt die Nebensaison, um günstig Urlaub zu machen. Glücklicherweise ist der Rest meiner Familie ausgeflogen. Ich glaube, meine Mutter möchte Simon zu neuen Hemden verhelfen. Der Arme.
Den Wecker habe ich mir vorsichtshalber auf 18 Uhr gestellt, sodass mir ausreichend Zeit bleibt, mich fertig zu machen. Ein Blick in meinen Kleiderschrank sagt mir, dass ein langwieriger Entscheidungsprozess ansteht. Ich besitze einfach zu viele Klamotten, und nichts davon scheint mir passend für den geplanten Abend.
Ein Kleid?
Viel zu schick, wir gehen schließlich nicht in die Oper.
Ein Rock mit Top?
Nein, er soll ja schließlich nicht denken, ich hätte mich extra für ihn in Schale geworfen. Ganz abgesehen davon ist es im Kino ohnehin dunkel.
Also bleibt nur eine Hose. Zu schick soll es nicht sein, daher greife ich zu meinen normalen Jeans, die ich natürlich wieder mit Chucks kombiniere. Als Oberteil wähle ich eine kragenlose tiefblaue Bluse mit tailliertem Schnitt und halblangen Ärmeln. Meine frisch gewaschenen Haare lasse ich offen, ein schöner Kontrast zu dem »Ich bin in Eile«-Pferdeschwanz, den ich meistens in der Schule trage. Nachdem ich noch Lidschatten aufgelegt, beim Auftragen des Lidstriches vor Aufregung fast ein Auge eingebüßt und meine Wimpern mit Mascara versehen habe, werfe ich einen Blick in den Spiegel. Definitiv habe ich schon schlimmer ausgesehen. Ehrlich gesagt gefalle ich mir sogar ausgesprochen gut.
Auf der Uhr im Bad sehe ich, dass es kurz nach sieben ist. Jan sagte nur, er wolle mich zur Sneak Preview um 20 Uhr abholen. Er kann also jederzeit vor der Tür stehen. Immerhin scheint er zu wissen, wo ich wohne, denn die entsprechende Frage hat er nicht gestellt. Hoffentlich ist heute das Glück mit uns, sodass im Kino ein guter Film präsentiert wird. Die Sneak Preview ist immer spannend, weil man nicht weiß, was einen erwartet. Klar ist nur, dass es ein Film ist, der noch nicht regulär im Kino läuft. Wenn ich auch nur eine Kussszene neben Jan ertragen muss, versinke ich im Erdboden.
Das Geräusch der Klingel beendet die von mir entworfenen Horrorszenarien der Peinlichkeit. Er ist da. Ich nehme all meinen Mut zusammen, gehe die Treppe hinunter und öffne die Tür.
Er trägt eine blaue Jeans, einen breiten, schwarzen Gürtel und ein graues Hemd. Um den Hals hat er einen leichten hellgrauen Schal, gegen den sich seine Haare dunkel abheben. Aus seinen stahlblauen Augen blickt er mich eindringlich an. Die linke Hand hat er in seine Hosentasche gesteckt, während er mir mit der rechten Hand eine einzelne Mohnblume überreicht.
»Guten Abend.«
Ich begrüße ihn, dann flüchte ich mich in ein verlegenes Lächeln und murmle etwas von »Das wäre doch nicht nötig gewesen.«. Schnell verschwinde im Haus, um die Blume ins Wasser zu stellen und wohlweislich in meinem Zimmer zu verstecken. Dabei nutze ich auch die Gelegenheit, meinen Herzschlag wieder auf ein normales Maß hinunterzubeschwören. Noch keine Minute in seiner Nähe und ich fühle mich wie nach einem 800-Meter-Lauf. Wie soll ich den restlichen Abend überstehen? Was ist, wenn es unangenehme Gesprächspausen gibt? Prinzipiell bin ich recht geistreich, aber in Jans Nähe büße ich meine komplette Schlagfertigkeit ein.
Ich hole einmal tief Luft, dann kehre ich zur Haustür zurück. Jan sieht immer noch genauso gut aus wie zuvor, und ich merke, wie sich mein Herzschlag erneut beschleunigt. Wenn das so weiter geht, liege ich mit einem Herzinfarkt darnieder, noch bevor wir ins Auto gestiegen sind.
»Fertig?«
Ich nicke und ziehe die Tür hinter mir zu. Jan legt mir seine Hand leicht auf den Rücken, genau zwischen die Schulterblätter und ich zucke zusammen. Meine komplette Wahrnehmung ist plötzlich nur noch auf diesen einen Punkt konzentriert.
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