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Fortinbras ist entwischt

Fortinbras ist entwischt

Titel: Fortinbras ist entwischt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
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knipste das Licht an. Und da, mitten auf dem Boden, saß Fortinbras und sah unendlich verloren aus.

    Beglückt und erleichtert stieß Gaylord einen zärtlichen Freudenruf aus. Fortinbras verhielt sich reservierter. Erlegte nur die Ohren zurück und sah besorgt drein. Hätte sein Verstand schneller gearbeitet, wäre er, noch bevor sich Gaylord rühren konnte, hinter die Wandleiste verschwunden. So aber war er im Nu wieder hinter Gittern, und Gaylord, der die Lebensmittelfrage äußerst ernst nahm, überlegte sich, ob mit diesem zusätzlichen Esser die sowieso schon mißliche Ernährungslage wohl eine verhängnisvolle Wendung nehmen würde.
    Doch dann kam Gaylord ein neuer Gedanke, nein, kein Gedanke, eher eine Eingebung, eine jähe Erleuchtung; nämlich, daß es für alle Beteiligten - oder doch zumindest für ihn - vorteilhafter wäre, wenn Mummi nichts von Fortinbras’ Rückkehr erführe.
    Gaylord hatte im Laufe der Zeit die Überzeugung gewonnen, daß es für alle Beteiligten am besten war, wenn Mummi so wenig wie möglich von allem erfuhr. Aber das alleine war es nicht. Irgend etwas noch Nebelhaftes, Unbestimmtes arbeitete in seinem findigen kleinen Kopf.
     
    Im Speiseschrank waren verschiedene Käsesorten. Gaylord entschied sich für Stilton. Hingebungsvoll fütterte er seinen kleinen Freund. Er selbst trank einen Schluck Wasser für den Fall, daß man ihm Fragen stellte. Schließlich öffnete er die Käfigtür.
    Fortinbras blickte erschrocken um sich. Die Stunden der Freiheit hatten ein Trauma bei ihm ausgelöst. Nie in seinem Leben war er glücklicher gewesen als in dem Augenblick, da er wieder in seinem Käfig saß und die Tür hinter ihm zuging. Und nun zeigte ihm die Freiheit wieder ihr schreckliches Gesicht.
    Gaylord steckte das unglückliche kleine Tier behutsam und sanft in die Brusttasche seines Pyjamas. Er knipste das Licht aus und schlüpfte, so verstohlen wie er gekommen war, wieder die Treppe hinauf.
    Da aber öffnete sich mit erschreckender Plötzlichkeit eine Tür, grelles Licht fiel auf den Treppenabsatz, und eine Stimme flüsterte bestürzt: «Gaylord, wo warst du?»
    Das Licht blendete ihn. Einen Moment lang barg er sein Gesicht in den Armen und blickte dann Mummi mit entwaffnender Unschuld an. «Nirgends», sagte er.
    «Gaylord, sei nicht albern. Natürlich warst du wo», fauchte Mummi.
    «Ich habe nur einen Schluck Wasser getrunken, Mummi.» Irgendwie stimmte das ja auch.
    «Deshalb brauchtest du doch nicht nach unten zu gehen. Es gibt doch Wasser im Badezimmer.»
    «Mrs. Darling schläft neben dem Bad, ich wollte sie nicht aufwecken», sagte er tugendhaft.
    Mummi sagte: «Ich verbitte mir, daß du mitten in der Nacht im Hause...Was war das?»
    «Was, Mummi?»
    «Ich dachte... ach, nichts», sagte sie matt. «Es sah so aus, als ob... sich etwas in deiner Tasche bewegte.»
    «Nanu!» Er blickte voller Interesse an sich herunter. «Meinst du, mein Herz schlägt schneller, mein Lehrer sagt...»
    May war müde, todmüde. Um zwei Uhr dreißig morgens war es ihr mehr als egal, was der Lehrer sagte. «Marsch ins Bett», sagte sie. «Gute Nacht.»
    «Gute Nacht, Mummi.» Er ging in sein Zimmer zurück. Fortinbras verbrachte den Rest der Nacht zwar warm, aber verängstigt und unter Luftmangel leidend auf der schlafanzugbedeckten Brust seines jungen Herrn.
     
    Der Morgen war naßkalt und windig. May wachte zerschlagen und deprimiert auf. Von Natur aus war sie eigentlich heiter und nahm das Leben, wie es kam. Nicht so an diesem Morgen. Das Haus war voll von den unterschiedlichsten Gästen; ihr Schwiegervater war offenbar auf dem besten Wege, eine Frau zu heiraten, die ihr, offen gesagt, etwas Angst einflößte; der arme Jocelyn wurde alle fünf Minuten in seiner Arbeit unterbrochen; die Eßvorräte schrumpften zusammen; es regnete immer noch; Gaylord...warum war Gaylord bloß in der Nacht durch das Haus gegeistert? Sie hätte der Sache unbedingt auf den Grund gehen müssen.

    Aber sie war zu müde gewesen, und jetzt war es zu spät. Natürlich konnte sie ihn fragen: «Also, Hand aufs Herz, was hast du wirklich heute nacht angestellt?» Aber sie wußte: sie würde es nicht tun. Zwischen ihr und Gaylord bestand ein stillschweigendes Übereinkommen. Gaylord konnte, wenn nötig, tagelang Ausreden gebrauchen und dabei jeden Moment auskosten, aber faustdicke Lügen tischte er ihr nicht auf. May, ihrerseits, trieb ihn nie so in die Enge, daß er dazu gezwungen war. Es war ein faires Abkommen. Nur hatte

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