Fortinbras ist entwischt
einfachen Glaubens waren und mit der Vision einer lieblichen Mutter Gottes im Herzen diesem bescheidenen Tierchen seinen Namen, gleichsam segnend, verliehen hatten. Mariengras, Marienblume, Marienkäfer. Er selbst gehörte einer Zeit an, die mehr über die Dinge der Welt wußte als je ein Zeitalter davor. Er blickte auf das kleine Tier, das jetzt über seinen Handteller lief, und hatte das Gefühl, sehr unwissend, sehr oberflächlich und sehr unbedeutend zu sein. Er ging zum Haus zurück und betrat die dämmrige Halle. Abwesend klopfte er gegen das Barometer. Es reagierte hektisch, so als hätte man ihm einen elektrischen Schlag versetzt. Dann fiel es ruckartig.
Bald nach Einbruch der Dunkelheit regte sich flüsternd ein leichter Südwind, rasch aber verwandelte er sich in einen regelrechten Sturm. Große dunkle Wolken trieben über den Himmel, die Sterne erloschen. Ein hartnäckiger, peitschender, feindseliger Regen setzte ein. Der Sturm fiel wild über das Haus her. Als der Morgen hinter den regenverhangenen Fenstern dämmerte, lief das Wasser von den traurig gesenkten Zweigen herab, und die großen Pfützen auf dem Vorplatz waren wie mit Pockennarben übersät. Der Weg nach Shepherds Warning stand noch tiefer unter Wasser als zuvor, und selbst der Hügelpfad war verschwunden. «Also ich glaube, jetzt kommen wir nie mehr weg von hier», bemerkte Gaylord höchst zufrieden. «Wir haben ja nicht mal mehr ein Boot, nicht wahr, Paps?»
«Nein», sagte Paps und strich sich schuldbewußt Butter auf seinen Toast.
«Mal hören, was der Wetterbericht sagt», schlug Gaylord hoffnungsvoll vor.
Jocelyn stellte das Radio an: Uber dem ganzen Land lagert ein ausgedehntes Tief, ein weiteres Tief nähert sich aus dem Westen. Schwere und anhaltende Regenfälle. Weitere Vorhersage: keine wesentlichen Änderungen. «Klingt ja nicht so gut», sagte Gaylord erleichtert.
«Ich habe schon Erfreulicheres gehört», sagte Paps.
«Nun hört mal bitte alle zu», sagte May. «Die Lage wird allmählich kritisch. Ich fürchte, ich muß die Lebensmittel rationieren.»
Na endlich! dachte Gaylord. Es würde wohl noch dazu kommen, daß sie sich gegenseitig aufessen mußten - ziemlich aufregender Gedanke. Aber zunächst konnte man sich ja noch an die Vorräte halten.
«Sie haben ganz recht, meine Liebe», sagte Mrs. Darling. «Ich selbst esse ja ohnehin so wenig, daß mir eine Rationierung kaum etwas ausmachen dürfte. Aber...»
Diese kühne Entstellung der Tatsachen schockierte May dermaßen, daß sie die Bemerkung nicht unterdrücken konnte: «Aber Sie essen doch wie ein Pferd.»
Mrs. Darling zog ihre Jacke ein wenig fester um sich, als wolle sie sich gegen etwas äußerst Rüdes schützen. Dann sagte sie jedoch gelassen: «Ich hoffe wenigstens wie ein Vollblut.» Ihr Blick ruhte auf Gaylord, der ausgerechnet diesen Moment gewählt hatte, um eine dick mit Honig bestrichene Scheibe Brot auf den Teppich fallen zu lassen und jetzt auf Händen und Knien versuchte zu retten, was zu retten war.
«Gaylord!» Mummis Ton entsprach ihrem Zorn, und das wollte etwas heißen. «Gaylord, steh sofort auf.»
Gaylord tauchte, die Scheibe Brot in der Hand, vor Kummer und Anstrengung rot im Gesicht, wieder auf. «Mummi, ich habe doch nur den Honig vom Teppich gekratzt. Eben hast du doch gesagt, daß wir mit dem Essen knapp sind, Mummi.» Er biß gekränkt in sein Brot.
«Hör auf, das zu essen», fauchte May.
«Ist doch nichts dran, Mummi.»
«Du legst es sofort hin, es ist voller Teppichfusseln.»
Gaylord war empört. Er legte den Toast auf den Teller zurück. Diese Erwachsenen! Da sah man’s wieder, nie waren sie einer schwierigen Situation gewachsen. Eben sprachen sie noch davon, die Lebensmittel zu rationieren, und im nächsten Augenblick warfen sie wegen ein paar Teppichfusseln eine gute Scheibe Brot fort. Er ging jede Wette ein, daß sie auch noch die Teppichfusseln essen würden, ehe sie gerettet wurden, falls sie hier nicht verhungerten oder gar ertranken.
«Nun, meine Liebe, lassen Sie uns Ihre Rationierungspläne wissen», sagte Mrs. Darling.
«Ich...» begann May.
Aber schon unterbrach sie Opa. «Weißt du was, May, wenn wir damit weiterkommen, lasse ich meinen Nachmittagstee ausfallen.» Er räusperte sich mitleidheischend. Das Opfer fiel ihm sichtlich schwer.
Da Opa drei gewaltige Mahlzeiten am Tag zu sich nahm, aber am Nachmittag selten mehr als eine Tasse Tee und ein Stück Gebäck, war May von dem angebotenen Opfer
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