Fortunas Odyssee (German Edition)
etwas von seinem Geld abgibt.«
Sie schaute weiterhin mit unruhigen Augen auf die vorbeigehenden Menschen.
»Ich liebe dich, Mama«, schloss ich ab.
Der Zeitraum zwischen Ankunft und Abfahrt des Zuges war die Brücke zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Sie wollte Genésio auf keinen Fall noch einmal um Hilfe anbetteln müssen, und dieser Bahnhof war ihr Fluchtweg – sowohl vor ihrem Patron als auch vor der Verzweiflung.
Ein vornehm gekleideter Mann erschien in einer Tür des Zuges, schaute sich um, stieg langsam aus und kam auf sie zu.
»Gnädige Frau, würden Sie bitte mit mir mitkommen?«
Sie hob den Kopf und schaute ihn ungläubig an, während sie mit dem Handrücken eine Träne abwischte.
»Würden Sie bitte mit mir zum Zug kommen, meine Dame?«
»Warum sollte ich das tun, mein Herr?«
»Weil mein Patron mit Ihnen reden möchte.«
Sie schaute um sich, als würde sie einen Zeugen suchen. Dann entschloss sie sich, mitzugehen.
Sie gingen gemeinsam zum Zug, stiegen die Stufen hinauf und traten in ein Abteil in der Mitte des Wagens. Der Angestellte drehte sich mehrfach um, um sich zu vergewissern, ob sie ihm folgte.
Er öffnete die Tür zum Abteil Neun, in dem ein eleganter Mann mittleren Alters am Fenster saß. Das Abteil war exklusiv und luxuriös. Er erhob sich, um sie mit einem Handkuss zu begrüßen – was damals noch ziemlich üblich war – und deutete auf einen freien Sessel.
Mama war nervös und ich ebenfalls. Was in aller Welt hatte dieser Fremde vor?
Der Angestellte verließ das Abteil und verschloss die Tür hinter sich. Mama schluckte und hielt den zusammengefalteten Zettel an ihre Brust.
»Wie heißen Sie, gnädige Frau?«
»Tyanna Ligier.«
»Hmm …«
Seine Augen musterten sie von oben bis unten, aber etwas sagte mir, dass er keine schlechten Absichten hatte.
Sie ließ ihre Finger knacken.
»Zeigen Sie mir bitte Ihre Knie.«
»Was?! Du alter Sack!«, schimpfte ich.
»Wie bitte?«, fragte sie, fast schon sprachlos.
»Ich habe Sie gebeten, mir Ihre Knie zu zeigen.«
»Ich bin eine Witwe, die um Hilfe bittet, keine Prostituierte.«
»Das habe ich weder gesagt noch gedacht«, erklärte er mit ruhiger Stimme. »Ich muss nur Ihre Knie sehen, und ich bin bereit, zu bezahlen. Ich verspreche Ihnen, Sie nicht zu berühren, meine junge Dame.«
»Geiler Sack! Du bist wohl ein Kniefetischist? Altes Schwein!«, geiferte ich.
Er wartete geduldig, während sie ihr Kleid langsam anhob. Ich konnte in diesem Moment ihre Gefühle verstehen.
‹Ich tue es für meinen Sohn›, dachte sie und stellte sich vor, wie wütend Papa wäre, wenn er dieser Szene beiwohnen würde.
Als ihre Knie vollkommen freigelegt waren, beugte sich dieser feine Herr etwas näher, untersuchte die Knie minutiös und sagte dann:
»In Ordnung, Sie können sie wieder zudecken.«
Sie atmete erleichtert auf.
»Sie sind tatsächlich Gabrielas Tochter.«
Mama war sichtlich verblüfft.
»Welches Problem belastet Sie, meine Liebe?«, fragte er, und es stellte sich heraus, dass der Kniefetischist nur in meiner Einbildung existiert hatte.
»Mein Mann ist vor Kurzem gestorben, einer meiner Söhne hat psychische Probleme und lebt in einer anderen Familie, meine Halbschwester hat uns verlassen, um Arbeit zu suchen, und mein jüngerer Sohn …« Sie konnte nicht mehr weitersprechen Sie weinte, als hätte sie für diesen Augenblick alle ihre Tränen aufgehoben. Alles brach aus ihr heraus, als ob sich die Vorhänge für ein trauriges Schauspiel öffnen würden.
Er wartete einen Moment und zog dann geduldig ein Taschentuch aus der Tasche seines Anzugs und bot es ihr an.
»Das Einzige, was ich noch hatte, war der Mut, hierher zu kommen«, sagte sie unter Schluchzern.
»So anmutig wie die Mama…«
»Haben Sie sie gekannt?«, fragte sie verwundert und drückte sich das Tuch gegen die Augen.
Er lächelte zum ersten Mal.
»Ja, sie war meine große Liebe.«
Sie rückte sich im Sessel zurück und schien sich allmählich zu entspannen.
»Ihr deutscher Großvater war unerbittlich und hat uns für immer voneinander getrennt.« Er kratzte sich an der Augenbraue und machte eine kurze Pause. »Aber er hat es nie geschafft, sie meinen Träumen zu entreißen, niemals. Bis heute sehe ich sie vor mir und fühle ihren Geruch, so wie beim letzten Mal.«
Mama hörte ihm aufmerksam zu und sagte nichts.
»Das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, war, als Sie noch ein Kind waren und sich am Knie verletzt hatten.«
Ich setzte mich neben
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