Fortunas Odyssee (German Edition)
Mama, hielt ihre Hand und starrte auf diesen eleganten Herrn, einen der würdevollsten Männer, die ich jemals kennengelernt habe.
Mama lächelte, denn die Erinnerung an jenen Tag wurde wieder wach.
»Ich habe Jura studiert, als ich Ihre Mutter kennengelernt habe. Ihr Vater hatte eine Bibliothek geerbt, die damals jeden Universitätsprofessor in Neid versetzte, denn sie war reich und umfassend, sowohl in der Bandbreite als auch in der Qualität ihrer Werke. Wir hatten Glück, dass er der Freund des Rektors war, der ihn dazu überreden konnte, sie für seine Schüler zu öffnen. Er stellte nur zwei Bedingungen. Die erste: Wir durften unter keinen Umständen ein Buch mitnehmen.
Die zweite: Wir durften seine Tochter nicht anschauen. Ich habe gegen beide Bedingungen verstoßen. Aber er hat es nur bei der zweiten bemerkt.«
Mama lachte auf, es klang noch ein bisschen heiser.
Wir hörten den ersten Pfiff. Es war an der Zeit zu gehen, der Zug würde gleich losfahren.
Sie stand auf, aber der Mann, dessen Namen wir nicht einmal kannten, machte ein Zeichen, dass sie sich wieder setzen solle.
»Das geht nicht…«
»Immer mit der Ruhe. Wir machen eine kleine Reise zur nächsten Station. In Ordnung?«
»Aber …«
»Vertrauen Sie mir.«
Er rief seinen Angestellten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann stieg aus und kam mit einer Fahrkarte zurück.
»Bitte sehr.« Er überreichte ihr die Fahrkarte. »Das geht in Ordnung. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern. Wenn Sie an der nächsten Haltestelle aussteigen, ist meine Geschichte erzählt, und jeder geht wieder seine eigenen Wege.«
Mama schaute auf das Ticket, es war für die Hin- und Rückfahrt. Sie musste ihm nur zuhören, er war bereit, dafür zu bezahlen.
Er schaute aus dem Fenster, überall waren Menschen, die sich verabschiedeten und weinten. Man sah rennende und winkende Kinder und Frauen mit großen Hüten, Wespentaillen und aufgewühlten Seelen. Fast alle Frauen waren in ihren Seelen verletzt, sei es, weil der Sohn zum Militärdienst einberufen worden war, oder weil der Ehemann in der Ferne Arbeit suchte. Es war ein harter Kampf gegen ein monotones Leben.
Als sich der Zug in Bewegung setzte, führte der Mann seine Erzählung fort. Der Hexer setzte sich auf einen der Koffer und zwickte mich. Ich lächelte ihm zu und war mir sicher, dass alles gut ausgehen würde. Wir beide waren gespannt auf die Geschichte, die der Reisende im Abteil Neun erzählen würde.
»Als ich Sie da draußen sitzen sah, hatte ich sofort Ihre Mutter vor Augen, und ich gestehe, dass ich Angst davor hatte, zu erfahren, ob Sie es wirklich wären.«
Mama hing wie gebannt an seinem rätselhaften Blick. Er fuhr fort.
»Also, die Bibliothek war riesig, und die Studenten gingen ehrfürchtig in ihr auf und ab, als sei es eine Schatzkiste voller Gold. Wenn wir dort waren, empfanden wir weder Hunger noch Müdigkeit. Er kam, um uns zu begrüßen und schaute immer in unsere Mappen. Einmal war ich ganz allein in der Bibliothek, und der General war nicht zu Hause. Plötzlich kam eine betörende junge Frau herein, ohne meine Anwesenheit zu bemerken. Sie nahm sich ein Buch, setzte sich auf den Boden und fing an zu lesen, wobei sie immer wieder lächelte. Ich war sofort von diesem Anblick bezaubert. Kurz darauf entdeckte ich, dass sie die Tochter des Generals war. Aber es war verboten, sich ihr zu nähern.
Von da an blieb ich oft länger in der Bibliothek, nur, um sie zu beobachten. Immer wenn sie wieder wegging, stellte sie das Buch an dieselbe Stelle zurück. Ich nutzte das aus und nahm es mit, weil ich wissen wollte, wovon es handelte. Es war eine Geschichte über eine Prinzessin, die ihren erblindeten Prinz betrog, indem sie eine andere Frau, die eine ähnliche Statur und eine gleichlautende Stimme hatte, an ihre Stelle setzte und sich hinter den Hügeln heimlich mit einem einfachen Bürger traf, in den sie sich verliebt hatte. Als der Prinz den Betrug aufdeckte, war sie bereits mit dem anderen über alle Berge.
Täglich ging ich jetzt in die Bibliothek. Sie kam immer am Ende des Nachmittags – als die anderen schon gegangen waren und ihr Vater noch nicht zurückgekommen war –, um ihr Buch zu suchen. Sie ging zwischen den Regalen hin und her und stieg die Leiter hoch, um in den oberen Etagen nachzuschauen. Am dritten Tag gab ich mich zu erkennen.
So vergingen Monate: Sie kam immer, wenn alle gegangen waren, und wir saßen auf dem Boden, unterhielten uns, lachten und vergaßen alles
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