Fortunas Tochter
mit ihm jeder Einwohner Chinas bis zum allergeringsten hatten die Ehre verloren. Wie sollte man nach einer solchen Schande je die Würde zurückgewinnen können? Der alte Weise vergiftete sich, indem er Gold schluckte.
Als sein Schüler von einem seiner Ausflüge aufs Land zurückkam, wo er Pflanzen gesammelt hatte, fand er ihn im Garten, in Seidenkissen lehnend und weiß gekleidet als Zeichen seiner eigenen Trauer. Neben ihm stand der noch warme Tee, und die Tusche im Pinsel war noch feucht. Auf seinem kleinen Schreibpult lag ein unvollendetes Gedicht, und eine Libelle zeichnete sich zart auf dem weichen Reispapier ab. Tao Chi’en küßte die Hände dieses Mannes, der ihm so viel gegeben hatte, dann blieb er einen Augenblick stehen, um die Zeichnung der durchsichtigen Flügel des Insekts im Licht des Sonnenuntergangs zu würdigen, wie sein Lehrer es gewünscht hätte.
Zur Bestattung des Weisen strömte eine große Menschenmenge herbei, denn in seinem langen Leben hatte er Tausenden Menschen geholfen, in Gesundheit zu leben und ohne Furcht zu sterben. Vertreter der Behörden und andere Würdenträger statteten ihren offiziellen Besuch ab, die Dichterkollegen rezitierten ihre feier– lichsten Verse, und die Konkubinen präsentierten sich ganz in Seide. Ein Seher bestimmte den für die Beisetzung geeigneten Tag, und ein Künstler für Bestattungs– gegenstände ging durch das Haus des Verstorbenen, um seine Besitztümer zu kopieren. Er betrachtete alles in Ruhe, ohne Maß zu nehmen oder Notizen zu machen, aber unter seinen weiten Ärmeln ritzte er mit dem Fingernagel Zeichen in eine Wachstafel; dann faltete er von dem Haus und seinen Räumen und Möbeln sowie von den Lieblings– gegenständen des Toten Miniaturen aus Papier, die alle zusammen mit ebenfalls papiernen Bündeln Geld ver– brannt werden würden. Ihm sollte in der anderen Welt nichts von dem fehlen, woran er sich in dieser erfreut hatte. Der Sarg, riesig und geschmückt wie eine kaiserliche Kutsche, wurde durch die Straßen der Stadt gefahren zwischen zwei Reihen von Soldaten in Uniform, vor ihnen Berittene in strahlenden Farben und eine Musikkapelle mit Zimbeln, Trommeln, Flöten, Glocken, Triangeln und einer Reihe von Saiteninstrumenten. Das Getöse war unerträglich, wie es der Bedeutung des Dahingegangenen zukam. An der Grabstelle waren Blumen, Kleidung und Speisen angehäuft; Kerzen und Weihrauch wurden angezündet, und zum Schluß wurden das Papiergeld und die feingearbeiteten Gegenstände aus Papier verbrannt. In die vergoldete Ahnentafel aus Holz war der Name des Meisters eingraviert, und sie wurde nun auf das Grab gelegt, um den Geist aufzunehmen, während der Körper zur Erde zurückkehrte. Dem ältesten Sohn kam es zu, die Tafel in Empfang zu nehmen und ihr in seinem Heim einen Ehrenplatz zu geben neben denen seiner anderen männlichen Vorfahren, aber der Arzt hatte niemanden, der diese Pflicht erfüllen konnte. Tao Chi’en war nur ein Diener, und es wäre ein schlimmer Verstoß gegen die Etikette gewesen, wenn er sich dazu angeboten hätte. Er war ehrlich betrübt, in der Menge war sicherlich er der einzige, dessen Tränen und Seufzer einem echten Schmerz entsprachen, aber die Ahnentafel wurde einem entfernten Neffen des Toten überreicht, der die moralische Pflicht haben würde, alle zwei Wochen und an jedem Festtag des Jahres ihm Geschenke darzubringen und davor zu beten.
Als die feierlichen Bestattungsriten vorüber waren, fielen die Gläubiger wie Schakale über die Besitztümer des Meisters her. Sie schändeten die ehrwürdigen Schrif– ten, wühlten in den Kräutern, verdarben die Präparate, zerstörten die sorgfältig gemalten Gedichte, nahmen die Möbel und Kunstgegenstände mit, zertrampelten den wunderschönen Garten und versteigerten das alte Haus.
Kurz zuvor hatte Tao Chi’en die goldenen Nadeln für die Akupunktur, eine Kiste mit ärztlichen Instrumenten und einige wichtige Medikamente in Sicherheit gebracht, dazu etwas Geld, das er in den vergangenen drei Jahren nach und nach beiseite geschafft hatte, seit sein Herr begann, sich auf den verschlungenen Pfaden der Altersdemenz zu verirren. Dabei war es nicht seine Absicht gewesen, den verehrungswürdigen zhong yi, den er wie einen Großvater achtete, zu bestehlen, vielmehr wollte er ihn mit Hilfe dieses Geldes ernähren, denn Angst vor der Zukunft bewegte ihn, wenn er sah, wie sich die Schulden häuften. Der Freitod des Meisters veränderte alles, und Tao Chi’en sah
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