Fortune de France: Roman (German Edition)
tiefes, schmerzliches Sinnen, das mich nicht loslassen wollte.
Am Abend desselben Tages war ich mit meinem Vater allein in der Bibliothek und sagte zu ihm:
»Mein Herr Vater, wollt Ihr mir bitte etwas erklären? Als Christus vor das Grab des Lazarus tritt, steht im Evangelium des Johannes geschrieben: ›Und Jesus gingen die Augen über.‹«
»Das macht Euch zu schaffen?«
»Ja. Mich verwundern diese Tränen. Warum beweint Christus den Tod des Lazarus, wenn er doch an sein Grab gekommen ist, ihn zu erwecken?«
»Diese Frage, mein Sohn«, sprach Jean de Siorac nicht ohne Rührung, »beweist, wie sorglich und gewissenhaft Ihr Euch der Heiligen Schrift zuwendet. Doch Ihr müßt wissen, daß Eure Frage schon beantwortet wurde: Jesus weint nicht über Lazarus, wie die Juden meinen, die ihn beobachten. Er weint bei dem Gedanken an die unabwendbare Trennung zwischen den Lebenden und den Toten.«
Diese schöne, bewegende Antwort drang wie ein Pfeil in mich ein, und da ich sie sogleich auf Hélix und auf mich bezog, stiegen mir die Tränen in die Augen, ohne daß ich sie zu meiner großen Verwirrung und Scham zurückzuhalten vermochte. Bei welchem Anblick mein Vater sich erhob, mich fest an seine Brust drückte und leise, mit großem Zartgefühl zu mir sagte:
»Ihr seid mit der kleinen Hélix aufgewachsen, sie ist Eure Milchschwester, und Ihr seid ihr in großer Freundschaft zugetan. Es ist also nicht verwunderlich, wenn Ihr um ihr Schicksal weint. Schämt Euch nicht Eures Kummers und bangt Euch nicht ob seiner Dauer: Jedes Leid braucht seine Zeit.«
Ich war wie überwältigt von einer Güte, die in so zartfühlenden Worten ihren Ausdruck fand, und wagte, meinem Vater eine Frage zu stellen, die mich sehr quälte, seit ich wußte, daß das Ende der kleinen Hélix nahte.
»Mein Herr Vater, wird sie erlöst werden?«
»Ach, mein Pierre!« erwiderte er. »Wer anders als der Herr aller Dinge kann Eure Frage beantworten?« Nach einem Schweigen fuhr er fort: »Wenn indes mein schwacher menschlicher Verstand auch nur ein Jota wert ist, würde ich sagen, daß ich es hoffe und daß ich es glaube. Die kleine Hélix wird so jung schon heimgerufen.«
Wofern er mich bei ihr wußte, kam Samson die kleine Hélix besuchen; bescheiden an seinem Platze sitzend, den Raum mit seinem Kupferhaar erhellend, beschränkte er sich darauf, der Kranken zuzulächeln, ohne sich zu rühren oder etwas zu sagen. Auch Miroul kam sie besuchen, mit seiner Viole.
Es war die Viole meiner Mutter. Sauveterre hatte meinen Vater überredet, sie unserm Diener anzuvertrauen, dessen hübsche Stimme ihm aufgefallen war. Wie von Oheim Sauveterre nicht anders erwartet, hatte sich Miroul, dem der Himmel die Gabe der Musikalität verliehen, das Spielen ganz allein beigebracht.Sonntags, wenn auf Mespech das Abendmahl gefeiert wurde, sang er die Psalmen Davids, seine Viole auf den Knien, deren Saiten er liebliche Töne entlockte.
Daß Sauveterre dies in die Wege geleitet hatte, verwunderte mich zunächst. Ich hielt die Musik, selbst die ernste, für überaus sinnlich. Doch Calvin dachte anders darüber, und bei ihm las ich später, daß sie große Kraft und Stärke besitze, der Menschen Herz zum höheren Lobe Gottes zu erheben.
Hélixens armes Gesichtchen leuchtete auf beim Anblick Mirouls, und jedesmal, wenn er kam, sang sie mit süßer, leiser Stimme:
»Ein Auge blau, ein Auge braun,
das ist Miroul, ihr könnt es schaun …«
Wenn ihr Kopf sie nicht zu arg peinigte, bat sie Miroul um ein Kirchenlied, immer dasselbe, das mit den Worten beginnt: »Befiehl du deine Wege …« Seine Viole auf den Knien, sang Miroul mit überaus anrührender Stimme. Das Lied muß Hélix gefallen haben, weil es die Hoffnung besang und weil sie selbst, das Ende ihrer Reise fühlend, sich in Gottes Hand gab; aber sie liebte es auch, weil darin von »Bahnen« und »Wegen« die Rede und sie seit langem ob ihrer großen Schwäche ans Bett gefesselt war.
»Mein Pierre«, sprach sie eines Tages mit ihrer zarten Stimme, »ich möchte dieses Lied immer wieder hören, weil es mich daran erinnert, wie ich mit dir, hinter dir auf dem Pferd sitzend, nach Le Breuil geritten bin. Drei Jahre ist es jetzt her.«
Barberine kam anfangs sehr oft in das Kämmerlein, doch sie weinte stundenlang nur dicke, bittere Tränen, was die kleine Hélix so bekümmerte, daß mein Vater der Amme riet, ihre Besuche abzukürzen. Unser übriges Gesinde war gehalten, nur von der Tür her die Tageszeit zu
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