Fortune de France: Roman (German Edition)
fließt ja gar nicht!«
»Unwissende Stockeselin!« schimpfte Jonas. »Glaubst du gar noch, den Schnee der Berge hier zu finden, die großen Wasser der Meere oder die Winde und Stürme, die über das Königreich wehen?«
Er gab sich entrüstet ob der Torheit und des Aberglaubens der Maligou, doch gleichzeitig nutzte er die Enge und drückte sich fester an Barberine als notwendig, zumal Sauveterre hinten keine Augen besaß.
»Und Taniès?« fragte unversehens einer der Sioracs, und ich hätte bei Gott nicht sagen können, welcher von beiden.
»Ja, wo liegt Taniès?« wiederholte der »Bruder des anderen«.
»Das ist nicht verzeichnet«, erwiderte Sauveterre geduldig.
»Und warum nicht?« wollte einer der Sioracs mit beleidigter Miene wissen.
»Bekümmert euch darob nicht«, sprach Faujanet, »ich bin in meinen zehn Jahren Dienst in der Legion von Guyenne weit herumgekommen und kann euch sagen, daß es im Königreiche Tausende und aber Tausende Dörfer gibt, die aus Mangel an Platz hier nicht verzeichnet sind.«
Sauveterre hob die Hand und ließ sich vernehmen:
»Gut gesprochen, Faujanet. Und ich füge hinzu, daß die Grafschaft Périgord nur eine der vielen Provinzen Frankreichs ist und Sarlat nur eine Stadt unter Dutzenden anderen.«
Worauf er fortfuhr:
»Hier ist Paris, die Hauptstadt des Königreiches, wo der König seinen Wohnsitz im Louvre hat, und hier im Nordwesten befindet sich ein kleiner Meeresarm, Ärmelkanal geheißen,welcher an seiner engsten Stelle kaum zwei Meilen mißt. Jenseits dieser Meerenge befindet sich Dover, welches zu England gehört, und diesseits liegt Calais, was zum französischen Königreich gehört.«
Sauveterre schlug mit der flachen Hand auf die Karte und setzte mit zornbebender Stimme hinzu:
»Doch seit 1347, also seit genau zweihundertundzehn Jahren, halten die Engländer Calais besetzt.«
»Was sind sie für schändliche Kerle, diese Engländer!« ließ sich Faujanet vernehmen. »Doch ich glaubte, Jeanne d’Arc hätte sie alle vertrieben.«
»Nicht überall«, erwiderte Sauveterre. »An dieses kleine Stück Frankreichs im Norden haben sie sich geklammert wie die Zecken an das Ohr eines Hundes.«
»Zweihundertundzehn Jahre!« wiederholte François, überwältigt von der Vorstellung einer so großen Anzahl von Jahren.
»Ich bin jetzt zweiundfünfzig Jahre alt«, sprach Sauveterre. »Zweihundertundzehn Jahre sind viermal soviel und noch zwei Jahre dazu.«
Ich betrachtete Sauveterre, sein graues Haar, sein faltiges, vernarbtes Angesicht, seine Hände, auf denen sich dicke blaue Adern abzeichneten. Viermal so alt wie Oheim Sauveterre, das war eine unvorstellbare Zeit.
»Wenn Gott in dieser langen Zeit uns Calais nicht zurückgegeben hat«, sprach da die Maligou, »dann hat er es eben nicht gewollt.«
»Einfältiges Weib!« rief Jonas und drückte sich in seiner Erregung noch enger an Barberine. »Wenn Gott gewollt hätte, daß Calais den Engländern gehört, hätte er es auf die andere Seite des Kanals gelegt, neben Dover.«
»Wie wahr!« rief Barberine, gänzlich überzeugt von der Schlüssigkeit dieser Beweisführung, und versetzte gleichzeitig der kleinen Hélix, die mich heimlich zu kneifen versuchte, einen Katzenkopf. Hingegen schien sie nicht zu bemerken, was hinter ihrem breiten Rücken geschah.
»Haben die Engländer«, wollte François wissen, »Calais durch Verrat eingenommen?«
»Nein, keineswegs«, gab Sauveterre zur Antwort, »sondern vielmehr in ehrlichem Kampf nach ihrem glänzenden Sieg bei Crécy über unseren armen König Philipp VI.«
Ich hatte im Sommer mit Samson die endlose Liste unserer Könige erlernt und fürchtete schon, daß Sauveterre, welcher gern solche Fragen stellte, mich jetzt fragen würde, wer vor Philipp VI. geherrscht und wer nach ihm. Allein Sauveterre fuhr fort:
»Bei Crécy haben die Engländer dank ihrer Bogenschützen, welche die besten auf dem ganzen Erdenrund sind, den Sieg errungen.«
»Ich bitte um Vergebung, Herr Hauptmann«, sprach da Jonas mit tief gekränkter Miene, »nicht ihre Schützen, sondern ihre Bogen sind die besten, weil sie aus einem Buchsbaumholz geschnitzt, welches nur in ihrem Lande wächst.«
»Du hast recht, Jonas. Und wenn es bei Crécy zweitausend Kerle wie dich gegeben hätte, dann wäre die Schlacht gewißlich anders ausgegangen.«
»Danke, Herr Hauptmann«, erwiderte Jonas, vor Stolz errötend bei dem Gedanken an all die Waffentaten, die er zweihundertzehn Jahre früher bei Crécy hätte
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