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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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zu, Sadie.» Sadie blickt zu der alten Frau auf, die tiefen Sorgenfalten in Mrs. Schmidts Gesicht sind noch gefurchter als sonst.
    «Danke, Mrs. Schmidt», sagt Sadie, und als die Tür zu ist und sie wieder allein, liest sie die Nachricht noch einmal von vorn.

KAPITEL 5
    DIE TOTEN UND DIE MONDSÜCHTIGEN
     
     
     
    Alice Sprinkle hat Hände wie ein Maurer, kräftiglange Finger, Schwielen und Muskeln, viele weiße kleine Narben von den zwanzig Jahren, die sie nun schon in den Kalksteinbrüchen herumklettert, in Schiefersteinbrüchen und Straßenanschnitten. Narben und die Spuren der schädlichen Sonne auf weiblicher Haut, zarte Falten und unförmig dicke Nägel, ein neues Pflaster klebt an ihrem Zeigefinger. Chance lächelt ihr höflich über den vollen Küchentisch hinweg zu und schenkt ihr noch eine Tasse Kaffee ein.
    «Es gibt keinen einzigen guten Grund dafür, Chance», sagt Alice und seufzt, hebt ihre graublaue Porzellantasse an die Lippen und pustet heftig auf die dampfende schwarze Flüssigkeit darin. Von ihrem Atem kräuselt sich die dunkle Oberfläche. «Es ist verdammte hirnlose Verschwendung», sagt sie.
    «Du musst das wirklich nicht ständig wiederholen», sagt Chance ruhig, versucht, selbstbewusst zu klingen, als wüsste sie nicht genau, dass sie die Debatte verloren hat. Sie trinkt ihren Kaffee, brühendschneller Schluck, und dann ein kurzer Blick aus dem Küchenfenster. Die Sommernacht erfüllt langsam den Garten, eine Julinacht voller Grillen und einem Metronom aus Zikadenzirpen. Jetzt ist es etwas kühler wegen des Gewitters am Nachmittag, das Gras draußen ist bestimmt noch nass, die Erde würde sich beim Barfußgehen noch immer feucht anfühlen.
    «Vielleicht müsste ich das nicht, wenn du vernünftigen Argumenten zugänglich wärst», sagt Alice und stellt die Tasse zu schwungvoll auf der Tischplatte ab, wobei ein paar Kaffeetropfen über den Rand schwappen, an der Tasse herunterlaufen und Flecken auf der Tischdecke hinterlassen. «Was glaubst du wohl, würde Joe dazu sagen, wenn er davon wüsste? Glaubst du nicht, er würde dir dasselbe erzählen wie ich?»
    «Joe ist tot», sagt Chance und schaut vom Garten wieder in ihre Tasse.
    Alice beugt sich vor. «Ja, aber du nicht, falls es dir entgangen ist.» Ihre Miene ist nicht wirklich wütend, aber es liegt schon etwas darin, das eher in Richtung Wut geht, keine reine Besorgnis mehr ist.
    «Ich brauche einfach etwas Zeit, um den Kopf klar zu kriegen, Alice. Das hat mit hirnlos nichts zu tun. Mein Großvater ist gerade gestorben, okay? Es ist überhaupt nicht hirnlos, dass ich im Augenblick von der Uni überfordert bin.»
    «So hast du das aber nicht ausgedrückt. Du meintest, du wüsstest nicht, ob du überhaupt jemals wiederkommst. Dass es keinen Sinn mehr hätte.»
    Chance schließt für einen Moment die Augen, ja, das hat sie gesagt, so ziemlich zumindest, als sie mit Alice vor zwei Tagen telefonierte. Dr. Alice Sprinkle, eine ihrer Betreuerinnen an der Uni. Sie hätte es eigentlich wissen müssen.
    Es wäre viel klüger gewesen, sich einfach leise aus dem Staub zu machen, irgendwann hätten die anderen schon eins und eins zusammengezählt. Aber der verantwortungsbewusste Teil ihres Selbst weigerte sich loszulassen, ebenso wie der Teil, dem Fossilien und Notendurchschnitte eben nicht scheißegal waren, der sich fragte, wo sie denn dann ihre Doktorarbeit schreiben sollte, der Teil, der sie in weniger als fünf Jahren durch ein sechsjähriges Studium gebracht hatte. Der Teil, der ihr Veröffentlichungen im Journal of Paleontology und Palios beschert hatte, als sie noch im Studium war. Sie hätte einfach verschwinden sollen. Sollten die Leute sich doch den Kopf zerbrechen. Stattdessen hatte sie Alice angerufen. «Ich glaube nicht, dass ich wiederkomme.» Eisiges Schweigen am anderen Ende, während Chance stotternd ihre einstudierten Entschuldigungen abgespult und dann jemanden vorgeschlagen hatte, der ihren Einführungskurs dienstags/donnerstags übernehmen konnte. «Ich komme in ein paar Tagen vorbei und räume mein Büro aus», hatte sie gesagt, und Alice antwortete nur: «Darüber reden wir später, Chance.» Jetzt ist später, und sie sitzen hier in der Küche ihres toten Großvaters und reden darüber, reden darüber seit sechs Uhr abends, argumentieren hin und her. Chance hat unrecht, immer, was sie sagt, ist alles Unsinn.
    «Du weißt doch wohl genau, was deine Karriere Joe bedeutet hat», sagt Alice und steckt sich eine Zigarette an. Sie

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