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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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in denen sie seit Jahren schon nicht mehr lebt. Schlüssel zum Haus ihrer Eltern. Schlüssel zu dem Auto, das seit ihrem Unfall im letzten Jahr einen Totalschaden hat. Und natürlich versteckt sich das Schlüsselbund unter all dem anderen Kram in ihrer Tasche. Wie üblich klemmt das Schloss, und sie kämpft gerade damit, als sie einen Haufen schwarze Weingummis entdeckt, ein fein säuberlicher, gezuckerter Turm aus Naschkram, und schon hat sie wenigstens für einen Moment die streitlustige Tür vergessen, die Gummifledermaus baumelt daran herab, während Sadie sich hinunterbeugt, um die Weingummis einer genaueren Musterung zu unterziehen. Schwarz sind sie und acht an der Zahl. Sadie hebt einen vom Boden auf und betrachtet ihn, als sähe sie so etwas zum ersten Mal. Dann späht sie hinüber zu Mrs. Schmidts Wohnung gegenüber. Es ist ja keineswegs undenkbar, dass die alte Frau die Dinger selbst hier hingelegt hat, wie damals, als sie mit blauer Kreide ein großes X und O an jede Tür im Gebäude gemalt hat. Sadie legt das Weingummi zurück oben auf den Stapel und öffnet die Tür. Sie lässt sie da liegen. Deke soll sich überlegen, was er damit machen will, am besten, sie vergessen die ganze Angelegenheit einfach komplett. In diesem Augenblick erkennt sie das zusammengefaltete Stück Papier, das jemand unter der Tür durchgeschoben hat.
     
     
    Den ersten Albtraum hatte sie ungefähr eine Woche nachdem sie bei Deke eingezogen war, kurz bevor sie den Computer im Müllcontainer fand. Wenn Sadie ihm das erzählen würde, finge er vielleicht an, von synchronen Ereignissen und bedeutsamen Zufällen zu faseln. Aber sie hat es ihm nicht erzählt. Hat es niemandem erzählt, nur sich selbst und dem Mac gesteht sie die Albträume, sie und die kauernde Kiste aus Mikrochips und cybergrüner Platine bewahren das Geheimnis. Die schwarzen, wassertriefenden Träume, in denen sie irgendwo unter der Stadt herumwandert. Sie ist nie allein, aber auch nie ganz sicher, wer bei ihr ist, ihre Stimmen sind klar zu vernehmen, ihre Gesichter verloren in der Dunkelheit. Der Gestank nach abgestandenem Wasser und etwas Totem, etwas Ertrunkenem wie der Schimmelgeruch im Flur, nur tausendmal intensiver. Sie geht weiter, hört die Stimmen über sich, überlegt, ob sie rufen soll, ob sie sich verlaufen hat, ob sich alle verlaufen haben und nach einem Weg hinaus suchen, aber nie lässt sie auch nur einen Laut hören. Sie schlingt die Arme um sich, gegen die Feuchtigkeit und Kälte, gegen die Totnassverwesungsgerüche. Die Felsen unter ihren Füßen sind rutschig von Schleim und Matsch, von dem, was hier unten unberührt von der Sonne wächst.
    Zuerst waren diese sonderbaren Träume wie ein Déjà-vu, alles wirkte enervierend vertraut. Allerdings war diese Vertrautheit flüchtig, unfassbar, und verschwand mit Sadies erster Tasse Kaffee und der ersten Zigarette am Morgen. Eines Abends langweilte sie sich und schaltete die Kanäle von Dekes beschissenem Fernseher durch, den er aus einem Laden der Heilsarmee hat. Dabei zappte sie in eine Doku auf PBS, jedenfalls ging es da um Fledermäuse und Höhlen, und plötzlich fielen alle Puzzleteile an die richtige Stelle, waren alle Punkte korrekt verbunden, und ihr kam die Erleuchtung. Sadie erinnerte sich wieder daran, dass sie mit zehn Jahren Albträume gehabt hatte, in denen sie sich irgendwo unter der Erde verlaufen hatte, die Albträume kamen immer wieder, einen ganzen Monat lang, nachdem ihre Eltern mit ihr die Mammuthöhle in Kentucky besichtigt hatten.
    Der Ausflug war ein Geburtstagsgeschenk für sie gewesen. Die drei folgten einem Führer, der ihnen die Stalagmiten und Stalaktiten erklärte, während er ihnen voran immer tiefer und tiefer in die unteren Gefilde der Höhle vordrang, immer weiter weg vom Licht, weiter weg vom Tag. Travertine Tropfsteinformationen lauerten wie Ungeheuer in den Schatten, die warteten, bis niemand hinsah, damit sie sie packen und schreiend in die immerwährende Nacht der Kavernen schleppen konnten. Sie kamen an unendlich tiefen, das Licht reflektierenden Seen vorüber, in denen blasse Salamander und Krebstiere ohne Augen lebten, standen vor phantastischen Kalzit- und Quarzgärten. Und irgendwann verloschen auf einmal alle Lampen, sechzig blindperfekte Sekunden lang, damit sie einmal merkten, wie dunkel es in der Höhle tatsächlich war, diese absolute und vollkommene Schwärze kennenlernten. Sadie klammerte sich verzweifelt an ihre Mutter, fühlte, wie ihr feuchte,

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