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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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substanzlose Zähne durch die Haut drangen bis hinunter auf die Knochen.
    Und diese neuen Albträume verwebten das Hier und Jetzt mit dem Vergangenen, diese Träume mit jenen, und manchmal bluteten beide ineinander, und dann war Sadie wieder zehn Jahre alt, hatte sich im Bauch von Birmingham verlaufen und suchte ihre Eltern oder doch wenigstens den Weg in die Welt droben, versuchte, die murmelnden Stimmen vor sich einzuholen. Sie waren so nah, dass Sadie nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um denjenigen zu berühren, der da sprach. Aber wenn sie es versuchte, bekam sie nichts als kühle Luft und Schwärze zu fassen. Außer einem Mal, und meistens tat sie, als gehörte dieser Teil nicht zu ihren Träumen; als wäre er lediglich ein Produkt der Einbildungskraft ihrer tageslichthungrigen Phantasie, der Traum eines wahnsinnigen Traums. Als hätte sie an jenem unterirdischen Ort nicht verzweifelte, flehende Finger ausgestreckt und dabei die Schulter eines toten Mädchens gestreift. Als hätte sie nicht ihre eiskalte Haut gefühlt. Aber Sadie Jasper war noch nie eine gute Lügnerin, selbst wenn sie nur sich selbst belügt. In diesem einen Traum gingen die Lampen wieder an, und sie erkannte, dass aus der hohen Kathedrale der Mammuthöhle ein enger Tunnel geworden war, wie ein von Menschen angelegter Minenschacht, so ein Tunnel eben, vielleicht hatte sie sich zu weit von ihren Eltern und dem Höhlenführer entfernt. Vielleicht musste sie nur anhalten und wieder genau denselben Weg zurück nehmen. Doch dann drehte sich das tote Mädchen um, und Sadie erkannte sein Gesicht, obwohl hungrige Würmer und Insekten sich Tag um Tag daran gütlich getan hatten, obwohl sie Elise Alden nie begegnet war, die Augen verschwunden waren, dennoch kannte sie dieses Gesicht. Sie sah die schwarzroten Schnittwunden, die von den Handgelenken des Mädchens die Eilbogen hinauf bis zu den Armbeugen reichten. Und das Mädchen lächelte sie an wie ein Polarnachthimmel, an dem jeder Stern erloschen war.
     
     
    Ein einziges Blatt Papier, zweimal gefaltet, ihr Name und der von Deacon mit Bleistift darauf gekritzelt, hingekrickelt, als wäre der Absender in Eile gewesen, vielleicht hatte er aber auch nur eine beschissene Handschrift, hässliche Schreibschrift. Sadie nimmt die Nachricht mit zur Couch und setzt sich. Die Tür steht weit offen, und sie stellt ihre Tasche, das Buch und den gelben Schirm neben sich auf dem Boden ab, dann faltet sie das Blatt auf und entdeckt dort dieselbe enge Krakelei, alle Wörter kippen hart nach links. Ihr kennt mich noch nicht, beginnt es ganz oben, ihr kennt mich noch nicht, aber es bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich habe den ganzen Tag gewartet, und jetzt sagt die Frau mit dem Hund, ich soll gehen, und ich habe Angst, dass sie die Polizei ruft, deshalb schreibe ich euch stattdessen diesen Brief.
    «Stattdessen?», flüstert Sadie und runzelt die Stirn, während sie das Papier betrachtet, an dessen Ecken klebrige Weingummi-Fingerabdrücke zu erkennen sind, und die Schrift wird unleserlicher, je weiter sie kommt. Sadie muss die Nachricht dicht vor die Nase halten und kneift die Augen zusammen.
    Ich sage euch, weshalb ich, und dann ist etwas ausgestrichen, gewaltsamplötzliche Graphitstriche, um einen Fehler auszulöschen, drei oder vier Wörter, erst hingeschrieben, dann zurückgenommen, der Schreiber hat es sich anders überlegt. Ich muss schnell mit euch beiden sprechen.
    Ihr kennt ein Mädchen namens Chance, das in einem großen Haus am Red Mountain lebt, und mit ihr habe ich schon geredet. Ich habe ihr nicht gesagt, was los ist, und wenn es so weit ist, wird sie mir nicht glauben, aber ich weiß, dass ihr beide es tun werdet. Tut mir leid, dass ich so eine Nachricht dagelassen habe, ich bin kein schlechter Mensch, und sehr viel klarer in Blockbuchstaben unter der letzten Zeile: Dancy Flammarion.
    «Eure Tür ist offen.» Sadie sieht vom Blatt auf. Im Wohnungseingang steht Mrs. Schmidt und umklammert mit der linken Hand einen fetten Stapel Werbung aus ihrem Briefkasten. Sie ist auf den kleinen Weingummiturm getreten, ihr blauer Pantoffel quetscht ihn platt. «Sie sollten wirklich Ihre Tür nicht so sperrangelweit offen lassen, Sadie, wir wohnen nicht in der besten Gegend.»
    «Ich weiß», sagt Sadie, dann sieht sie wieder auf den Zettel, auf die letzte Zeile über der Unterschrift.
    Ich bin kein schlechter Mensch.
    «Hier treibt sich alles mögliche Volk herum, das hier nicht hingehört. Ich mache die Tür besser

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