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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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ein Ungeheuer erzählt, das unter dem Berg lebt.» Deacon deutet nach unten, auf seine Füße, die Treppe, den Grund unter dem Haus. «Und dann behauptet sie, dass sie die letzten zwei Monate in einem Greyhound herumgefahren ist und auf Befehl eines Engels Monster erschlagen hat, und nur für den Fall, dass wir ihr möglicherweise nicht glauben, zieht sie den gottverdammten Finger aus ihrer Tasche, um es uns zu beweisen.»
    Deacon steigt noch eine Stufe höher, und Chance kann seine Augen erkennen, zwei unergründliche, schlickgrüne Seen, die immer gleichmütig schauen, unbewegt und ruhig. Jetzt allerdings wirken sie ebenso aufgewühlt wie seine Stimme.
    «Erst dachte ich, dass Sadie vielleicht hinter der ganzen Geschichte steckt. Dass sie irgendwo dieses Mädchen aufgetan hat und sich nun an mir rächen will, weil wir uns heute Nachmittag gestritten haben. Aber dann sagt Miss Dancy Flammarion dahinten zu mir, dass sie ganz sicher ist, dass ich ihr glauben und dann helfen werde, dich zu überzeugen, weil sie nämlich weiß, was ich in dem beschissenen Tunnel gesehen habe.»
    «Das ist irre, Deacon.» Chance murmelt kaum hörbar. Sie will nichts mehr darüber hören, warum begreift er denn das nicht und lässt sie in Ruhe? «Das ist dir doch auch selbst klar.»
    «Ja, Chance, das ist es. Sogar absolut psychotisch, und wenn du mich fragst, hat die Kleine nicht alle Tassen im Schrank, allerdings ist meine Frage damit nicht beantwortet. Woher zum Teufel weiß sie von Elise und von unserer Nacht im Tunnel?»
    Chance’ Augen werden heiß und feucht, dann merkt sie, dass sie weint, brennende Tränen laufen ihr über die Wangen. Das reicht fast, damit sie wieder wütend wird, reicht fast, um die Angst zurückzutreiben, die kalt und hart in ihrem Bauch zusammengerollt liegt. Diese verdammte Scheißnacht. Und jetzt heult sie auch noch vor Deacon Silvey.
    «Hör mir zu, Chance, du kennst ja die Geschichte von mir und der Polizei in Atlanta, wie ich denen da geholfen habe, bevor ich nach Birmingham kam.»
    «Von dem Mist habe ich nie ein Wort geglaubt», sagt sie schluchzend und hasst dabei den Klang ihrer Stimme, hasst es, dass sie nicht stärker ist. Sie senkt den Kopf, damit Deacon ihr Gesicht nicht sehen kann.
    «Ich weiß», antwortet Deacon. «Ich glaube, das ist einer der Gründe, weshalb wir uns gut verstanden haben. Ich habe mich bei dir nie gezwungen gefühlt, das Ganze irgendwie zu erklären. Jedenfalls habe ich den Finger angefasst, um zu sehen, ob er echt ist, um sicherzugehen, dass es nicht irgendeine Nachbildung aus Gummi ist oder so…»
    In diesem Augenblick unterbricht ihn Dancy Flammarion, das Albinomädchen beobachtet die beiden vom dunklen Fuß der Treppe. «Bitte nicht weinen, Chance. Dafür gibt es gar keinen Grund. Ich kann dir beweisen, dass ich nicht lüge.»
    «Bitte, bring sie hier raus, Deacon.» Damit dreht Chance sich weg, dreht sich um zu den schmalen Stufen, die hinauf auf den Boden führen, will all diese Unmöglichkeiten hinter sich lassen.
    Doch da sagt Dancy noch etwas, das Chance stehen bleiben lässt. Sie steht ganz still da, wagt es nicht, zurückzuschauen zu dem Mädchen oder Deacon, sondern starrt durch ihren Tränenschleier auf den verblassten Kunstdruck an der Wand.
    «Was hast du gerade gesagt?», flüstert Chance, und Dancy wiederholt das Wort, lauter diesmal.
    «Dicranurus», sagt sie noch einmal, und Chance schließt die Augen, schließt sie fest, bevor sie zu Boden sinkt – ein Opfer von Schwerkraft, Übelkeit und der festen Überzeugung, dass nichts von alldem hier wirklich geschieht.

KAPITEL 6
    BERÜHRT
     
     
     
    «Würdest du mir vielleicht freundlicherweise erklären, was hier abgeht?», fragt Sadie. Deacon starrt weiter hinauf zur Decke über Joe Matthews’ Bett, auf den bruchlinienartigen Riss unter dem Anstrich, wo der Rigips begonnen hat, sich abzublättern und zu wölben. Er sieht Sadie nicht an, weil er noch immer Chance’ Gesicht nicht aus dem Kopf bekommt, den himbeerfarbenen Blutfleck auf ihren Lippen nach ihrer Ohnmacht. Sie war mit dem Kinn hart auf dem Fußboden aufgeschlagen und hatte sich auf die Zungenspitze gebissen. Eigentlich ein Wunder, dass sie sie nicht gleich abgebissen hatte.
    «Ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu in der Lage bin, Schatz», sagt er und schließt die Augen gegen das Licht der Lampe. Im Zimmer riecht es nach Staub und Hustentropfen, ein Geruch, der ihn an seine Kinderzeit erinnert und die Besuche bei alten Leuten damals, seinen

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