Fossil
stattdessen für einen Moment weg, schaut zurück zum Wohnzimmer, wo Sadie und Dancy zusammen auf dem Sofa sitzen und fernsehen. «Glaubst du, ich brauche diese durchgedrehte Scheiße, dass mein Leben nicht so schon im Eimer ist? Vielleicht denkst du ja auch, du müsstest mich daran erinnern, was für ein Arschloch du bist.»
Chance sitzt auf halber Treppe zum oberen Stock des Hauses, den Rücken gegen die Wand gedrückt, die Füße gegen das Geländer gestemmt. Sie kaut am Daumennagel und sieht Deacon nicht an. Er steht zwei Stufen unter ihr, gekrümmt wie eine Vogelscheuche, die nicht mehr länger von Stangen und Brettern aufrecht gehalten wird und jeden Moment nach vorn kippen kann.
«Mit dem Mädchen ist nicht alles in Ordnung da oben», sagt Chance. «Und was meinst du, woher sie den Finger hat, Herrgott?»
«Sie sagt, sie hätte ihn dem ersten Monster abgeschnitten, das sie getötet hat», antwortet Deacon, spricht dabei sehr leise, entweder weil er mehr Angst davor hat als Chance, dass Dancy sie hören könnte, oder ihm ist einfach nicht danach, lauter zu sprechen, vielleicht fühlt er sich nach Gemurmel, damit Chance sich anstrengen muss, um ihn zu verstehen, sich richtig auf ihn konzentrieren muss.
«Das ist ein menschlicher Finger, Deke.» Chance hört gerade lange genug auf, an ihrem Daumen zu knabbern, um Deacon den rechten gekrümmten Zeigefinger hinzuhalten.
«Stell dir vor», murmelt er, «das ist mir doch tatsächlich auch aufgefallen.»
«Das liegt daran, dass du so ein verdammt schlaues Arschloch bist, Deacon. Weißt du, lass mich einfach mit dem Scheiß in Ruhe, sammel deine Freundin samt ihrer freakigen Spielkameradin ein und haut ab.»
Deacon seufzt durch die Zähne, ein enttäuschtes oder ungeduldiges Seufzen, als ob er mehr von Chance erwartet hätte, als ob er genau das von Chance erwartet hätte. Am liebsten würde sie rübergehen und ihm eine Ohrfeige verpassen.
«Woher wusste sie von Elise?», fragt er sie. Die Dreistigkeit, ihr eine solche Frage zu stellen, und Chance wendet den Blick von ihm ab. «Erklär mir das, Chance, und dann verschwinde ich und nehme sie mit.»
«Zum Teufel mit dir», brummt sie, während sie auf ihrem Daumennagel herumkaut.
«Ich meine es ernst, wirklich. Komm schon, du bist doch sonst so gut darin, alles wegzuargumentieren, womit du dich nicht auseinandersetzen willst, alles, was dir unbequem ist oder unlogisch erscheint. Darin bist du doch Expertin.»
«Und du bist ein Arschloch.»
Deacon beugt sich näher, wird noch leiser, jetzt flüstert er schon fast, ein angespanntes Flüstern, als ob er sich fürchtet, verzweifelt versucht, es ihr zu erklären. Vielleicht ist das hier seine letzte Chance, sie zu überzeugen.
«Du hättest dir ihre Geschichte möglicherweise doch anhören sollen, Chance. Denk doch nur einmal kurz darüber nach. Die ausgeschnittenen Artikel über den Wasserwerkstunnel und die Traueranzeige von Elise. Sie weiß über die Nacht im Tunnel Bescheid.»
Der letzte Satz, ja allein das vorletzte Wort reicht vollkommen. Chance steht auf, mit zwei großen Sprüngen nimmt sie die paar Stufen bis zum Kopf der Treppe, dreht sich um und schaut Deacon unten wütend an; wenn sie könnte, würde sie ihm zwei Löcher mitten durch die Seele starren. Sie ist mit einem Mal so wütend, dass ihr fast schwindlig davon wird, und dabei sieht er sie nicht einmal an, sondern schaut schon wieder hinüber zum Wohnzimmer.
«Darum geht es dir also! Dieser ganze Auftritt hier, eure Gespenstergeschichte hast du dir zusammengereimt, um mich davon zu überzeugen, dass du nichts damit zu tun hast, was ihr passiert ist. Dass du nicht daran schuld bist. Gott, das habe ich dir wirklich nicht zugetraut, Deke.»
«Das stimmt nicht», flüstert er. Aber ihr Kopf summt vor Hass und Adrenalin, ein Kopf voller Wespen und Hornissen.
«Woher soll sie denn sonst von der ganzen Geschichte wissen? Das ist die einzige Möglichkeit. Du hast ihr vom Tunnel erzählt. Wie viel zahlst du Dancy, damit sie mir diesen Scheiß unterjubelt?»
«Ich hab ihr überhaupt nichts erzählt.» Deacon wird jetzt lauter, schleudert ihr die Worte entgegen und klettert eine Stufe hinauf. Chance weicht einen Schritt zurück von der Treppe. Offen zur Schau gestellte Wut ist bei Deacon genauso selten wie Nüchternheit, und Chance ist nicht zornig genug, um sich jetzt nicht ein wenig zu fürchten.
«Die Kleine ist einfach in meiner Wohnung aufgetaucht und hat Sadie und mir irgendeinen Scheiß über
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