Fossil
Albinomädchen. «Die Zähne des Drachen.» Chance ignoriert sie und starrt in die kleine Flasche mit der trüben Flüssigkeit. Es liegt etwas darin, etwas, das aussieht wie eine fleischige Schnecke, die aufgerollt tot auf der Seite schwimmt. Dann bemerkt Chance, dass der wurmartige Körper in Glieder unterteilt ist, gepanzerte Glieder, zwischen denen feine Haare wachsen.
«Der Drache hat hunderttausend Kinder», sagt Dancy, «und er war schon alt, als die Engel vom Himmel stürzten.»
«Was ist das, Chance?», fragt Deacon. «Wovon redet sie, verdammt?» Chance dreht sich zu ihm, dreht sich und hält die Flasche hoch, damit er sie sehen kann.
«Sag du’s mir, Deke.» Chance setzt sich auf den Boden neben Dancy, um nachzuschauen, was sonst noch seit acht Jahren in der Munitionskiste wartet.
Der halbe Nachmittag ist bereits verstrichen, bevor Chance endlich allein ist in dem großen Haus. Sie sitzt in der Küche und fixiert die Holzkiste. Die steht auf dem Tisch, wo Deacon sie auf Chance’ Wunsch abgestellt hat. Danach hat sie sich entschuldigt und alle drei zur Eingangstür manövriert. «Ich brauche etwas Zeit für mich», hat sie gesagt. «Um nachzudenken.»
Dancys Gesichtsausdruck erinnerte fast an Panik, nach all der Freude und Erleichterung wegen ihrer Entdeckung. Beides wich nun plötzlich heftiger Besorgnis. «Nein, Chance, dafür bleibt jetzt keine Zeit mehr», sagte sie und packte Chance am Ärmel ihres Shirts. «Sie werden herausfinden, dass du es gefunden hast, dass du langsam begreifst, was vorgeht. Du bist allein nicht mehr sicher.»
Chance schaute Deacon und Sadie mit einem hilfesuchenden Blick an. «Wir kommen morgen wieder», sagte Sadie begütigend und legte Dancy die Hand auf die Schulter. Sie wollte Dancy trösten, doch deren Gesicht und ihre roten Augen hinter den Sonnenbrillengläsern verrieten, wie unmöglich das war.
«Morgen ist es zu spät», flehte Dancy, und an Chance gewandt: «Wir haben noch nicht einmal über den Tunnel geredet. Wir müssen über den Tunnel sprechen, wir müssen da hin. Heute. Solange noch Zeit dazu ist.»
«Der Tunnel existiert nun schon über hundert Jahre, Dancy, er wird morgen bestimmt auch noch da sein.» Damit löste Chance behutsam Dances Finger von ihrem T-Shirt. «Ich muss mir die Aufzeichnungen meiner Großmutter durchlesen und über eine Menge nachdenken.»
«Es ist gefährlich », Dancy wurde langsam hysterisch, war den Tränen nahe. Doch Chance wollte nichts mehr hören und sehen, nachher bekam Dancy wieder einen Anfall oder redete in dieser unheimlichen alten Frauenstimme. «Wenn sie kommen, bist du hier allein nicht sicher», beschwor Dancy sie. «Niemand von uns ist mehr sicher, sobald sie herausgefunden haben, was wir wissen.» Sie stieß Sadies Hand von der Schulter, schubste sie grob weg wie ein gefährliches Insekt oder die Finger eines Aussätzigen, die ungefragt nach ihr griffen, wie bei einem Bettler oder Leprakranken. Dabei wandte sie den Blick nicht eine Sekunde von Chance.
«Verdammt, es gibt nichts weiter zu verstehen, nichts, was du verstehen könntest. Das wollen sie doch nur, dass du versuchst, die ganze Geschichte zu begreifen, obwohl da mit Logik nichts auszurichten ist. Du sollst herumsitzen und überlegen, denn dann kommen dir wieder Zweifel, und sie gewinnen Zeit, »
«Dancy», hat Chance gesagt und versucht, ruhig zu klingen, während sie innerlich vor Zorn kochte.
«Das habe ich alles schon einmal erlebt.» Unter Dancys Sonnenbrillengläsern traten Tränen hervor und liefen ihr über die blassen Wangen. «Ich weiß genau, was passieren wird.»
«Chance, vielleicht sollten wir auf sie hören», sagte Sadie. «Sie wusste schließlich wirklich über die Kiste Bescheid. Da könnte es doch zumindest sein…» Doch Chance’ Gesichtsausdruck reichte aus, um sie verstummen zu lassen, in diesem Blick lag Chance’ gesamte Wut. Sie war ganz offensichtlich am Ende mit ihrer Geduld, wenn sie das auch nicht aussprach.
«Morgen, Sadie», sagte Chance bestimmt, keine weitere Diskussion möglich.
«Okay», antwortete Deacon und hielt den Kopf gesenkt, damit Chance ihm nicht in die Augen sehen konnte und er ihr nicht in die Augen sehen musste. «Morgen. Ich muss sowieso in ein paar Stunden arbeiten, oder Madame Taylor platzt eine Ader. Ich bin in diesem Monat schon zweimal zu spät gekommen.»
Chance hat ein Taxi gerufen und die drei bis zur Tür begleitet. Deacon trug Dancys Seesack inklusive abgeschnittenem Finger und dem
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