Fossil
Dancy eine Fünfjährige. Chance Matthews’ schickes Taschenmesser liegt neben der Coladose. Ab und zu wendet Dancy den Blick vom Fenster ab und starrt stattdessen minutenlang das Messer an, nur diese beiden Dinge, den Himmel und das Messer, und dabei hört sie zu, wie Sadie im Schlafzimmer am Computer langsam tippt.
Es gibt keine Uhr in der Küche, aber sie weiß, dass es inzwischen vier sein muss, noch ein paar Stunden, bis es dunkel wird, nur noch ein paar Stunden, und sie wüsste nicht, was sie noch sagen soll, damit die anderen auf sie hören.
«Er mag das Licht nicht», sagt ihre Mutter. «Er wartet, bis es dunkel ist.» Dancy dreht den Kopf und sieht hinüber in die Zimmerecke, aus der sie die Stimme ihrer Mutter gehört hat. Sie erwartet fast, sie zu sehen, die blitzgescheiten blauen Augen und das kastanienbraune Haar. Deshalb ist Dancy enttäuscht, als dort nichts ist außer der abgeblätterten Tapete und ein paar toten Kakerlaken. Enttäuschung, ja, und sie wird furchtbar wütend, starrt die toten Insekten böse an, als ob die irgendetwas dafür könnten, dass ihre Mutter nicht hier ist.
«Aber es war doch helllichter Tag, Mama?», fragt sie die Kakerlaken, schmeckt die Verbitterung, die winzigen schwarzen Wutflocken, die sich irgendwo tief in ihr verbergen. «Die Sonne hat geschienen, und er kam trotzdem direkt auf mich zu.»
Und genau das hat ihm ja schließlich auch den Garaus gemacht, sagt ihre Mutter, aber diesmal weiß Dancy, dass die Stimme nur in ihrem Kopf existiert. Sie hört auf, die Kakerlaken anzustarren, und wendet den Blick wieder dem Messer zu – Chance’ hübschem rotem Messer. Dancy hat ein eigenes Messer, das große Tranchiermesser ihrer Großmutter liegt ganz unten im Seesack. Das mag man nicht so schön zusammenklappen können, es besitzt auch keine fünf Klingen oder einen Korkenzieher, aber man erreicht damit jedes Mal das gewünschte Ziel. Sie streicht über das ins rote Plastik eingelegte silberne Schweizer Kreuz, wie ein silbernes Kreuz auf einem Schild, ein Emblem mit fünf Seiten, und Dancy weiß nicht, welche Bedeutung das haben mag, vielleicht ja auch gar keine.
Du musst jetzt stark sein, Dancy, sagt ihre Mutter, stark genug für uns alle, und für einen Moment ist es wieder jener schreckliche Tag im Sumpf, und sie kann die Hitze und den Rauch des Gewehrs riechen, kann das Blut riechen. Sie schließt die Augen, will der Stimme ihrer Mutter erzählen, dass sie sie in Ruhe lassen soll, bitte, einfach nur in Ruhe lassen, sie ist doch schon so lange, lange stark gewesen, und es hat überhaupt nichts gebracht. Die ganze Angst und die Schuldgefühle, all die Dinge, die sie getan hat und von denen sie nicht sicher ist, ob sie richtig oder falsch waren. Und selbst wenn es für den Rest ihres Lebens so weitergeht, wird es doch nicht den geringsten Unterschied machen.
Du bist noch lange nicht verrückt, nur weil sonst niemand erkennt, was wirklich vorgeht, sagt ihre Mutter, und nun klingt die Stimme weiter entfernt, gedämpft und fern wie der Himmel, dünn und durchscheinend wie Deacons eklige Vorhänge. Dancy will nichts mehr hören, schließt die Augen, so fest sie nur kann, und schüttelt den Kopf. «Ich bin nicht stark», sagt sie. «Ich bin müde. Ich bin müde, und ich will jetzt nicht mehr weitermachen.» Fast hätte sie gesagt, und ich will wieder nach Hause, aber sie hat das Feuer ja selbst gelegt, als alles vorbei war, hat aus dem Brombeergestrüpp neben den Kiefern zugesehen, wie die Hütte um ihre Mutter und Großmutter herum herunterbrannte und der Rauch das Zwielicht Floridas in eine Dunkelheit verwandelte, als wäre es Mitternacht.
Dancy öffnet die Augen, hat das plötzliche sichere Gefühl, dass sie nicht allein ist, ein trüber aschgrauer Schatten könnte eben am Fenster aufgetaucht sein, der Augen hat wie giftige schwarze Beeren, für einen Moment zu sehen, dann schon wieder verschwunden. Jetzt ist nur noch der helle leere Himmel da, und ihre rechte Hand tut weh. Dancy schaut darauf und stellt fest, dass sie Chance’ Messer festhält. Die größte Klinge ist aufgeklappt, und auf der Hand verläuft ein Schnitt von der Daumenwurzel bis zum Mittelfinger. Eine große Blutlache hat sich zwischen den altbackenen Oreos und der Coladose gebildet, das Blut läuft über das Handgelenk wie ein flüssiges Armband, bevor es aufs Tischtuch tropft.
Ich weiß genau, was passieren wird.
Dancy lässt das Messer fallen, starrt einen Moment auf das umsonst vergossene Blut,
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