Fossil
ganzen Rest. Dancy weinte noch stärker und flehte Chance an, sie nicht fortzuschicken. Sadie versuchte, sie zu trösten, versprach ihr, dass bestimmt nichts Schlimmes passieren würde und dass Chance schon selbst auf sich aufpassen könne, keinem von ihnen würde etwas zustoßen.
Es dauerte noch fünf Minuten, bis das Taxi kam, ein hellgrüner Pontiac diesmal und kein Kombi. «Du wirst schon sehen», sagte Dancy. Man konnte sie wegen des Heulens und des Schnodders schlecht verstehen, es war ein einziges ersticktes Geschluchze. «Ich kann dich nicht beschützen, wenn ich nicht hier bin.»
Da griff Chance in ihre Jeanstasche und holte ein Schweizer Taschenmesser heraus, fünf scharfe Klingen, die eingeklappt in ihrer apfelbäckchenroten Plastikhülle ruhten, ein Korkenzieher, Pinzette und ein Flaschenöffner. Sie drückte es Dancy in die Hand. Der Taxifahrer hupte, und Dancy betrachtete verwirrt das Messer. «Mein Großvater hat es mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt, Dancy. Ich möchte, dass du bis morgen früh für mich darauf aufpasst. Das Messer bedeutet mir mehr als fast alles andere, was ich besitze. Wenn ich also nicht vollkommen sicher wäre, dass wir uns sehr bald Wiedersehen, würde ich es dir niemals geben.»
«Kommt, wir müssen», sagte Deacon. Dancy schaute auf. Sie schien noch immer genauso verängstigt, schien noch immer kein Wort zu glauben, von dem, was Chance da gesagt hatte, dennoch nickte sie knapp und schloss die Hand fest um das Taschenmesser. Dann gingen Sadie und Deacon mit ihr zum Auto. Einen Moment später bog der Fahrer rechts ab, Richtung Five Points, und Chance blieb in der Auffahrt zurück.
Jetzt sitzt sie allein in der Küche, nach der Küchenuhr über dem Herd ist es 14.37 Uhr, und hält den kleinen Klumpen aus Erz und Sandstein in der Hand, mustert prüfend die Trilobiten und den seltsamen sternförmigen Abdruck auf der Rückseite des Steins. Ab und zu schaut sie hinüber zu dem angetrockneten Blutfleck auf dem Fensterglas, dort wo die Krähe dagegengeflogen ist, dann zu der kleinen Flasche mit dem Alkohol und dem dunklen Gliederkörper, der darin schwimmt. Sie sind wie verschiedene Puzzleteile, oder zumindest könnten sie zu einem Puzzle gehören, und der Trick ist, herauszufinden, welches dazugehört und welches nicht. Chance ist nicht daran gewöhnt, sich blöd vorzukommen, aber genau so fühlt sie sich gerade. Vielleicht wäre die so sensible Alice Sprinkle oder Chance’ Großvater dazu in der Lage, ihr eine ganz einfache naheliegende Lösung zu präsentieren, durch die das alles auf einmal zusammenpasst und völlig logisch erscheint. Das Zeug aus der Kiste und der Selbstmordvogel, Dancy Flammarion und die Nacht, in der Chance, Deacon und Elise bekifft waren und beschlossen, in den alten Wasserwerkstunnel einzubrechen.
Noch fünf Minuten, vielleicht zehn, dann packt sie die Fossilien und das tote Ding in der Flasche zurück in die Kiste (es befinden sich noch andere Sachen darin, doch Chance fehlt jetzt der Mut, sich das genauer anzusehen). Das Notizbuch lässt sie auf dem Tisch liegen, trägt alles andere hinaus zum Auto und stellt die Kiste vorsichtig auf den Rücksitz des Impala. Es ist Samstagnachmittag, möglicherweise ist gerade niemand im Labor, mit etwas Glück hat sie es ein paar Stunden für sich. Chance geht noch einmal die Stufen hinauf zur Eingangstür, um abzuschließen, und kontrolliert dann noch zweimal, ob sie auch wirklich zu ist. Gerade dreht sie sich wieder um und will zum Auto, als sie die tote Krähe am Ende der Veranda entdeckt, die pechschwarzen Schwingen weit ausgebreitet, eine klaffende dunkelrote Wunde im Brustkorb wie von einer Revolverpatrone.
Chance stößt den Vogel mit der Stiefelspitze von der Veranda ins Gras, das auf dem Holz verschmierte Blut muss warten. Sie muss sich anstrengen, nicht an Dancy und die Krähen zu denken, anstrengen, an nichts Besonderes zu denken, während sie schnell zum Auto geht.
KAPITEL 8
AN DEN ERDACHTEN ENDEN
DER ERDKUGEL
Deacon ist in den Waschsalon gegangen, und Dancy sitzt allein in der Küche und starrt aus dem Fenster über dem Herd, schaut hinaus in den hellen Himmelsausschnitt, der zwischen den Vorhängen zu erkennen ist, Vorhänge aus verschossenem Chintz in der Farbe von Buttermilch mit lächelnden babyblauen Katzen darauf. Auf dem Tisch steht eine geöffnete Dose Cola, die langsam warm und schal wird, die Dose, die Sadie für sie geöffnet hat, Cola und altbackene Kekse, als wäre
Weitere Kostenlose Bücher