Fossil
dann steht sie auf und geht hinüber zur Spüle, wobei sie bewusst nicht aus dem Fenster sieht, nicht nachsieht, was immer da draußen sein mag oder auch nicht. Dann lässt sie kaltes, brennendes Leitungswasser über die Wunde laufen. Irgendwo entdeckt sie ein orange-weiß gestreiftes Geschirrtuch, das fast sauber zu sein scheint und das sie sich um die Hand wickelt. Ein zweites Geschirrtuch liegt hinter einem verschimmelten Brot und einem Glas Erdnussbutter, damit wischt Dancy die Blutlache vom Küchentisch. Als sie fertig ist, spült sie das befleckte Geschirrtuch aus und hängt es zum Trocknen über den Wasserhahn, ihre Hand fängt jetzt an, richtig wehzutun, schmerzt bis hinunter auf den Knochen. Sie setzt sich wieder auf den Stuhl, hält die Hand gegen die Brust wie ein Kind und hört zu, wie Sadie langsam auf das Keyboard einhackt.
Das Schweizer Taschenmesser liegt noch da auf dem Tisch, wo sie es fallen gelassen hat, ihr Blut beginnt bereits an der glänzenden, rostfreien Stahlklinge anzutrocknen. Dancy nippt an der lauwarmen Cola, behält sie einen Moment im Mund, bevor sie schluckt.
Die Stimmen sind jetzt verschwunden, weder hört sie ihre tote Mutter noch ihre Großmutter oder den Engel mit den Augen wie Funken aus einem Hochofen und seinen Flügeln wie ein blaugrauer Reiherschwarm vor einem Hurrikan. Alle haben sie im Stich gelassen, haben sie endgültig aufgegeben. Vielleicht ist das die Strafe, weil sie zugegeben hat, dass sie erschöpft ist, zu viel Angst hat, um den Drachen allein zu ersäufen.
«Hiermit beginnt es», flüstert sie, nimmt Chance’ rotes Messer in die linke Hand, ein Messer so rot wie Blut. «Und hiermit endet es», sagt sie.
Dancy wischt die Klinge an ihrer Jeans ab, klappt das Messer dann wieder zusammen und lässt es in die Gesäßtasche gleiten. Sie nimmt nichts mit, außer ihrem Seesack. An der Tür verharrt sie kurz, weil das Klack-Klack-Klack von Sadies Fingern beim Tippen auf der Plastiktastatur etwas Beruhigendes hat, Sadie, wie sie Worte fabriziert. Dann tritt Dancy hinaus auf den moderigen Flur und zieht die Tür sehr leise hinter sich zu.
Heute hat Chance kein Glück, denn als sie vor dem Labor parkt, steht schon Alice’ alter Toyota Pick-up unter dem kaum erwähnenswerten Schatten eines krummen Ahornbaums, und alle mit einem Insektenschutz versehenen Fenster sind weit geöffnet, falls doch ein bisschen Wind aufkommt. Chance flucht, schaut sich nach der Kiste auf dem Rücksitz um und will schon beinahe umdrehen und auf direktem Weg wieder nach Hause fahren. Alice muss heute nicht sein, und erst recht hat Chance keine Lust, ihr zu erklären, was sie selbst nur halb begreift, also verbringt sie volle fünf Minuten in der prallen Nachmittagssonne, schwitzt und lauscht dem Brummen des leerlaufenden Motors und einem alten Nirvanasong, der laut aus dem Radio dröhnt, bevor sie seufzt und den Impala neben dem Pick-up parkt.
Das Gebäude ist winzig, ein armseliges Rechteck aus herbstlaubroten und kotbraunen Ziegelsteinen, Betonblöcken und abblätternder weißer Farbe. Es sieht aus, als wäre es auf der vernachlässigten Insel aus Gras und Kies mitten auf dem Fakultätsparkplatz hier am nördlichen Ende des Campus gestrandet. Eine braungrüne Insel in einem kochenden Meer aus schwarzem Asphalt. Auf beiden Seiten des Gebäudes gibt es eine schwere Metalltür, auf eine davon hat vor ungefähr fünfzehn Jahren einer von Esther Matthews’ Studenten fein säuberlich «Paläontologielabor» gepinselt. Weitere Hinweise darauf, dass es sich bei dem Gebäude um mehr als eine Bausünde handelt, gibt es nicht, man kann leicht denken, hier würden lediglich Akten oder das Werkzeug für die Hausmeister aufbewahrt. «Willkommen in der Vorhölle der ach so glamourösen und tief befriedigenden Welt wahrer wissenschaftlicher Forschung», witzelt Alice Sprinkle immer, wenn sie einem neuen Studenten das Labor zum ersten Mal zeigt.
Die Tür ist nicht abgeschlossen und steht offen. Chance entdeckt Alice am großen Tisch des vorderen Raums. Dieser Teil des Gebäudes wird vor allem für die Aufbewahrung der Sammlungsobjekte benutzt, und so ragen hier Dutzende Stahlvitrinen an den Wänden auf, alle im selben Schlachtschiffgrau, eine weitere Regaldoppelreihe steht in der Mitte des Raums. Der Tisch, an dem Alice hinter einer Wolke aus Zigarettenqualm sitzt, befindet sich weiter vorn. Sie starrt durch die Linse eines beleuchteten Vergrößerungsglases auf eine Plastikschale voller aschgrauer
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