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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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sich einfach hinzusetzen und zuzusehen, wie die Dinge eben ihren Lauf nehmen; sie ist gefangen in ihrer gerissenen Spiegelstraßenfalle, soll immer und immer wieder im Kreis gehen, bis die Dunkelheit über sie hereinbricht und die Nachtläufer in ihrem Element sind. Dann werden sie ihr all das antun, womit sie ihr immer gedroht haben. Das, was ihr früher oder später widerfahren soll, was sie mit ihrer Mutter gemacht haben, bevor sie starb.
    «Nach all dem irren Scheiß gibst du einfach auf?» Dancy dreht sich etwas, um zu sehen, wer da spricht, weiß es eigentlich schon, aber dreht sich trotzdem um. Der lächelnde hagere Mann aus dem Bus sitzt unten auf der Treppe, die hinauf zur Eingangstür des weißverputzten Schulgebäudes führt. Der Mann vom Parkplatz, nur ist sein Gesicht jetzt fast so lang und behaart wie das eines Wolfs, Masken sind so kurz vor der Dämmerung wohl überflüssig.
    «Teufel, Mädchen, da hättest du ja genauso gut im Bus sitzen bleiben und wirklich nach Graceland fahren können, wie du mir gesagt hast.»
    Ein rostigblauer VW Käfer rattert vorbei. Der Mann auf den Stufen winkt der Fahrerin zu, die lächelt und winkt zurück. Dancy überlegt, was die Frau im Auto wohl gesehen haben mag, und dann bekommt sie wieder Schüttelfrost, so schlimm, dass es ihr egal ist. Ihr Kopf fühlt sich leicht an, wie ein Heliumballon. Sie legt die verwundete Hand an die Kehle, um den Kopf festzuhalten.
    «Hast du eigentlich noch nie etwas von Regenschirmen gehört?»
    «Ich bin krank», sagt sie, und der Mann blinzelt mit seinen wie von einem Wespenstich geschwollenen roten Lidern, seine Augen sind wie blinde Wesen in seinem Schädel, die herauswollen.
    «Nein», sagt er, «du stirbst. Und das schon die ganze Zeit.»
    Vielleicht sollte sie wirklich einfach loslassen, überlegt Dancy, vielleicht täte ihr das gut, und sie kann dann beobachten, wie ihr Kopf höher und höher über die Bäume und Dächer steigt, hinauf in den Sommerhimmel. Dann müsste sie nicht länger irgendwelchen Männern mit Wolfsgesichtern und tränenden roten Augen zuhören.
    «Ehrlich gesagt, bin ich ein wenig enttäuscht. Ich hatte etwas mehr Widerstand von dir erwartet», sagt der Mann. «Wir waren alle ziemlich beeindruckt davon, wie du mit der Sache in Florida umgegangen bist. Ich dachte mir noch: ‹Die müssen wir im Auge behalten, die wird uns die ein oder andere Lektion erteilen.›»
    «Er hat meine Mutter getötet», flüstert Dancy und ist auch selbst enttäuscht, hat die Hand vom Hals weggenommen, aber ihr Kopf sitzt immer noch auf den Schultern. Lediglich an der Kehle hat sie nun einen klebrigen Fleck vom Blut an ihrer Hand, und ein klebriger Handabdruck ist auch am Kragen ihres T-Shirts zu erkennen. «Er hat erst meine Mutter und dann meine Großmutter umgebracht.»
    «Das stimmt», sagt der Mann und leckt sich mit einer langen rosafarbenen Zunge über die Lefzen, vielleicht macht ihn der Anblick von Blut hungrig. «Aber du hast dafür seinen kleinen roten Wagen präpariert und gewartet, bis seine Mama kommt und nach ihm sucht, und ihr dann ein paar Kugeln verpasst, nicht wahr? Verdammt, du wolltest uns allesamt in die Hölle schicken. Hast du das nicht gesagt?»
    «Nein, das war der Engel.» Dancy spürt, dass sie sich nicht mehr lange auf den Beinen halten kann, möchte sich neben ihren Sack auf den Bürgersteig setzen, falls der lächelnde Mann vorhat, sie zu Tode zu quatschen.
    «Es gibt keine Engel, Mädchen, ich dachte doch, zumindest das hättest du inzwischen begriffen.»
    «Darf ich mich bitte hinsetzen? Das klänge im Sitzen alles viel logischer.» Aber der lächelnde Mann lacht und schüttelt den Kopf. Er streckt Dancy die Hand hin und öffnet die langen Finger. Zum Vorschein kommt ein Knäuel seidenweißen Bindfadens auf seiner haarigen Handfläche.
    «Noch nicht», erklärt er bestimmt. «Du hast uns Wunden geschlagen, Kind, und wir erwarten etwas mehr gesunde Gegenwehr für all unsere Mühen.» Als Dancy nach dem Bindfadenknäuel greifen will, rollt es dem Mann aus der Hand und springt die Stufen hinab. Dancy bückt sich und hebt es auf, langsam, denn ihr ist schwindelig, und als sie sich wieder aufrichtet und zur Treppe hinüberschaut, ist der Mann verschwunden.
    Das also wollen sie von mir, überlegt sie, ich soll den Tunnel finden; es ergibt keinen Sinn, aber das macht jetzt auch nichts mehr, nichts ergibt noch den geringsten Sinn. Dancy wickelt das eine Ende vom Bindfaden des lächelnden Mannes um einen

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