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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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niedrigen Hornstrauch, der vor der Schule steht. Mit aller Kraft, die ihr noch geblieben ist, zieht sie an dem festen Knoten, bis sie sicher ist, dass er hält und sich nicht plötzlich löst. Dann überquert sie die Straße und zieht dabei eine gerade Bindfadenlinie hinter sich her über den Asphalt. Auf der anderen Seite angekommen, wickelt sie den Faden zweimal um den Ständer eines Straßenschilds, bevor sie nach rechts abbiegt und den Faden danach weiter hinter sich herzieht, einen halben Block bis zur Ecke 13. und 19. Straße.
    Sie führt den Faden um einen weiteren silbernen Schilderpfosten, biegt nach rechts ab, dann nach Süden, und als sie zurückschaut, wirkt die Schule schon kleiner, weiter entfernt, und Dancy weiß, dass sie den Weg aus dem Labyrinth herausgefunden hat, dass er ihr den Weg gezeigt hat. Dancy wickelt den Faden beim Gehen ab, lässt ihn zu Boden fallen, um den Weg zu markieren, auf dem sie gekommen ist – genau wie bei Hänsels und Gretels Brotkrumentrick –, sie würde es an dem Faden sofort erkennen, falls sie sich noch einmal im Kreis drehte.
    Sie ist schon fast an der Ecke 14. und 19. als ihr auffällt, dass sie ihren Seesack vor der Highschool vergessen hat. Darin sind ihre gesamten Besitztümer: einige Kleinigkeiten, die sie aus der Hütte gerettet hat, bevor sie niederbrannte, Fotografien von ihrer Großmutter und ihrem Großvater, der Rosenkranz ihrer Großmutter, das große Tranchiermesser. Aber ihr fehlt die Kraft, den ganzen Weg noch einmal zurückzugehen, sonst schafft sie es nicht mehr bis zum Parkplatz oder bis zum Tunnel, der am Ende dieser Straße liegt.
    Dancy versucht, nicht an ihren Seesack zu denken, geht über die Straße, ist ganz damit beschäftigt, den Faden um das eine Bein eines Briefkastens zu wickeln, als sie das Geräusch hört und aufschaut. Ein harter hölzerner Ton, als ob jemand mit einem Besenstiel heftig gegen den Bürgersteig klopft, ein Geräusch wie klopfende Besenstiele und raschelndes Stroh. Sie hat diesen Laut schon einmal gehört. Klopf-klopf-klopf, damals auf einer mitternächtlichen Straße in Savannah. Dancy bemüht sich, wenigstens eine Minute lang mit dem Zittern aufzuhören, lange genug, um die Ohren zu spitzen, bemüht sich, nicht daran zu denken, wie schlimm ihre Schmerzen sind.
    Doch jetzt ist nichts mehr zu hören außer dem meckerndharschen Geschnatter einer Spottdrossel irgendwo in der Nähe und des unablässigen Rauschens des Stadtverkehrs. Dancy richtet sich auf, ihr ist so heiß und schwindelig, dass sie sie sich eigentlich nur noch auf dem kühlenden Bürgersteig ausstrecken möchte. Im Osten färbt sich das Firmament indigofarben und violett, während der Westen bei lebendigem Leibe verbrennt, dazwischen hängt die kühle Mondsichel. Die Himmel scheinen ihr ein samtweiches Wiegenlied zu singen, als Entschuldigung für alles, was die Sonne ihrer Haut angetan hat und was die Nacht beherbergt. Leg dich hin, Dancy, leg dich hin und schließ die Augen, doch die Erinnerung an Savannah reicht aus, damit sie sich wieder in Bewegung setzt. Sie wickelt das Knäuel weiter ab, das dabei keinen Deut kleiner wird, und Dancy weiß, sie könnte es noch bis zurück nach Florida abwickeln, ohne dass es schrumpfen würde.
     
     
    Zwischen dem parkgepflegten Rasen und Bäumen, die mit ihren Schatten aus dem Zwielicht schon Nacht machen, liegt der niemals heilende Riss des Bergs wie eine tiefe Furche. Auf beiden Seiten ragt steil die rote Erde auf, dazwischen grob behauene graue Felsen. Dancy geht hinüber zum Eingang des Wasserwerkstunnels. Hunderte von Meilen, ja tausend sogar, die sie schließlich genau hierher gebracht haben, vor diese finstere, moosbewachsene Fassade aus Kalksteinblöcken und Mörtel, vor diesen Eingang mit seinem verrosteten Eisentor und zwei kleinen Fenstern weiter oben. Vor denen gibt es zwar keine Gitter, aber sie sind auch so klein und hoch, dass es keine Rolle spielt. Dort hindurch kommt niemand hinein oder hinaus.
    Dies ist das hungrige Steinantlitz, von dem Dancy so oft geträumt hat, dasselbe zahnlos gähnende Maul und die tiefliegenden leeren Augen. Das Gesicht des Dings, das ihre Mutter getötet hat. Und das Gesicht des hasserfüllten, tiefschwarzen Dings, das dann kam, um dessen Leiche zurück in den Sumpf zu schaffen. Das Gesicht des lächelnden Mannes im Greyhoundbus, das Gesicht der rothaarigen Frau in Waycross, die kurze, sich windende Fangarme hatte, wo ihre Brüste hätten sein sollen. Das Gesicht des schönen

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