Fossil
Jungen aus Savannah. Der ihr dreitausend Arten höchster Qual in einer verkorkten bernsteinfarbenen Flasche zeigte. Danach hat sie ihn umgebracht. Alle sind sie tot, weil der Engel es befohlen hat. Jetzt steht Dancy hier und hält die Gitterstäbe des Tors umklammert, damit sie nicht umfällt. Sie ist zu schwach, um zu stehen, und der Berg ragt dunkel über ihr auf. Sie ist hier, weil der Engel ihr befohlen hat herzukommen.
Dies ist der Eingang zu all den Nirgendwos, in denen ihre Götter schlafen, wo sie seit Anbeginn aller Zeiten schlafen, seit dem ersten sengend heißen Sonnenaufgang. Chance Matthews sollte jetzt hier bei ihr sein, Chance und Deacon, und der Seesack müsste hier sein, mit allem, was darin ist. Von so weit her ist Dancy gekommen, dass sie auch nicht mehr weiterkann, jetzt ist sie zu nichts anderem mehr fähig, als hier zu stehen und durch die Gitter in die Schwärze hinter dem Tor zu starren, das mit schlangenartig verschlungenen Eisenketten und einem glänzenden neuen Schloss versiegelt ist. Sie erkennt dahinter lediglich die enormen Wasserrohre, deren korrodierte Ventile mit schimmeligem Schleim überzogen sind.
Dancy zittert wieder so schlimm, dass ihre Zähne laut klappern. Es klingt wie eine Hosentasche voller Pennys, wie Bahnschienen unter den Rädern einer Lokomotive. Sie schließt die Augen, setzt sich mit dem Rücken zum Tor auf den Boden, mit dem Rücken zum Höllenschlund und seinen feuchten Sporenausdünstungen. Erst als ihr Kopf nicht mehr Karussell fährt, bewegt sie sich wieder, erst als sie oben und unten unterscheiden kann, rechts von links. Dann greift sie in ihre Gesäßtasche und holt Chance’ rotes Messer heraus.
Mit der aufgeklappten großen Klinge schneidet sie den Faden durch, lässt dann das Knäuel fallen, das fortrollt in die Schatten, vielleicht ganz zurück bis zu dem lächelnden Mann, Dancy ist es egal. Das lose Ende des Fadens bindet sie an einen der Eisenstäbe des Gitters und zieht den Knoten fest, sodass er mit dem im Hornstrauch mithalten kann. Aus den Bäumen sind nun Laute zu hören, aus der Dunkelheit unter den Bäumen, von den Spinnenwesen, die dort hocken, mit ihren Besenstielbeinen und ihrem hechelnden Atem eines durstigen Hundes.
«Worauf zum Teufel wartet ihr noch?», fragt sie die seelenlosen roten Augen, die sie beobachten. Sie will nicht weinen, will tapfer sein, jetzt am Ende. Dancy bekreuzigt sich und wartet darauf, dass sie kommen.
ZWEITER TEIL
DER DRACHE
«Chaos und Dreck und Schmutz – das Unbestimmbare und das Unmessbare und das Unfassbare – und alle Menschen
sind Lügner – und dennoch…»
Charles Fort (1919)
KAPITEL 9
EIN ANDERES WORT FÜR LEIMKRAUT
Sadie steht am Fenster im Leuchtstoffröhrenlicht der Wäscherei und beobachtet die Straße, die Lichtkegel unter den Straßenlaternen und die anderen weniger klaren Abschnitte dahinter und dazwischen, die großen Kiefern und Eichen am Rand des Rushton Park, die im Dunkeln miteinander verschmelzen. Deacon telefoniert noch immer, versucht noch immer jemanden aufzutreiben, der bereit ist, alles stehen- und liegenzulassen, um an einem Samstagabend zu arbeiten. Jemanden, der nichts Besseres zu tun hat, auch nichts Lästigeres, aber bisher hat Deacon damit kein Glück. Sein Spiegelbild auf der Scheibe legt sich über den Blick auf die Highland Avenue. So kann Sadie erkennen, dass er sie von seinem Hocker hinterm Tresen beobachtet, ohne dass sie die Augen von der Straße oder dem Park oder den Bäumen wenden müsste, und sieht gleichzeitig hinter sich und nach vorn. Deacon runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf, weil er weiß, dass sie ihn sehen kann, und sie nickt.
«Ja, Mann, ich weiß, dass es Samstagabend ist», sagt er und klingt dabei, wie sich ihr Magen gerade anfühlt. «Sag einfach, dass du nicht willst, und wir können auflegen, damit ich jemand anders anrufen kann, okay?»
Ein Pick-up Truck voller Teenager fährt langsam an der Wäscherei vorbei. Sadie kann das Wum, Wum, Wum der Anlage durch das Tafelglas fühlen. Beschissener Rap und eine Fuhre betrunkener weißer Jungs, die nur darauf warten, dass ein Cop sie rechts ranwinkt. Dann dürfen sie mal zwei Nächte im Gefängnis von Birmingham verbringen und sehen nach der Erfahrung vielleicht nicht mehr ganz so schlimm nach peinlichen Vorstadtbubis aus. Sadie schließt die Augen und öffnet sie erst wieder, als sie die Bässe nicht mehr hören kann, erst als es wieder nur
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