Fränkisch Schafkopf
saà sie regungslos auf ihrem Sofa und dachte über diesen Tag nach. Ãber Heinrich, der so still und unnahbar war. Ãber Jakobsohn, der dieses Leben führte, wie auch sie es vor vielen Jahren geführt hatte â mit exzessivem Musikhören unter Ausschluss solch störender Begleiterscheinungen wie Kochen oder irgendwelchen angesagten Hobbys. Ãber dessen Nachbarn, der sich ihr gegenüber so forsch und überlegen gebärdet hatte. Und über Paul, den Oberpfälzer, der ihre patzigen Anwürfe einfach abbeutelte. Danach herrschte in ihrem Kopf ein Vakuum.
SchlieÃlich stand sie auf und trug das leere Glas in die Küche. Hoffnungsfroh öffnete sie das Gefrierfach ihres Kühlschranks. Tatsächlich, dort lagerte noch eine Tiefkühlpizza Quattro Stagioni. Sie riss die Verpackung auf, schaltete den Backofen ein und ging in den Keller. Italien und Württemberg, das passte nicht zusammen. AuÃerdem lagerte in ihrem Weinregal noch eine Flasche des in den Fachzeitschriften hochgelobten Sacchetto Pinot Grigio doc aus dem Jahr 2010.
Während die Pizza im Ofen garte, probierte sie den »milden, frischen und unkomplizierten« Italiener. Bereits nach dem zweiten Schluck bereute sie ihre Wahl. Der Pinot Grigio erwies sich für ihren Geschmack als zu mild und als zu unkompliziert. In Zukunft würde sie mehr auf solche Euphemismen achten und sie als das sehen, was sie waren: eine beschönigende Mixtur aus Fadheit und Oberflächlichkeit.
Während des Abendessens war sie in Gedanken bei Jakobsohns Musiksammlung und seiner aufgeräumten, blitzsauberen Wohnung. Kein Bild, kein Foto, nichts, was auf irgendwelche persönlichen Beziehungen deutete. Auf eine Familie oder eine Freundin. Nichts lag herum, keine Zeitung, kein Fernsehprogramm, kein Geschirr, alles war weggeräumt oder in Regale verbannt. Sogar die sauberen Aschenbecher. Der in jeder Beziehung untalentierten Hausfrau Paula Steiner erschien eine dermaÃen ausgeprägte Ordnungsliebe und Sauberkeit skurril, fast ungeheuer, auf jeden Fall zwanghaft.
Dazu kam noch etwas. Etwas beinahe Moralisches. Eine solch exquisite Plattensammlung konnte nur jemand haben, davon war Paula überzeugt, der frei von Falschheit und Oberflächlichkeiten war. Ja, diese Vinyl-Veteranen machten in ihren Augen aus Ulrich Jakobsohn einen anständigen, einen uneigennützigen Menschen. Und einen Menschen, der zu viel allein war und der diese Einsamkeit mit dem Sammeln und Hören von Musik therapierte.
In dem Moment empfand sie Mitleid mit dem Opfer. Fast genauso groÃes Mitleid wie mit Heinrich, der jetzt im Krankenhaus vor sich hin dämmerte. Beiden, Heinrich und diesem Jakobsohn, hatte man übel mitgespielt. Irgendjemand hatte diese Schafkopfrunde gewaltsam halbiert. Aber warum? Was hatten die zwei getan, dass man ihnen nach dem Leben trachtete?
Nach einer kurzen Nacht wurde sie am nächsten Morgen bereits um kurz vor fünf Uhr wach. Obwohl sie ahnte, dass ihr ein langer Arbeitstag bevorstand, verzichtete sie darauf, liegen zu bleiben, und stand sofort auf. Nach einer Katzenwäsche und einem kalorienreichen Frühstück â Fünf-Minuten-Ei, Knäckebrot mit Butter, Fertigmüsli mit zwei zusätzlichen Esslöffeln Zucker â verlieà sie das Haus.
Der Pförtner des Nordklinikums wollte ihr zunächst mit dem Hinweis auf die frühe Tageszeit den Zutritt verwehren. Erst als sie ihm ihren Dienstausweis entgegenhielt, durfte sie passieren. Auf der Intensivstation herrschte schon geschäftiges Treiben. Ãberall brannte Licht und huschten Putzfrauen von Zimmer zu Zimmer.
Heinrich lag noch genauso in seinem Bett, wie sie ihn gestern verlassen hatte. Ohne jedes erkennbare Leben, die Augen geschlossen. Sie gab sich Mühe, sich davon nicht beeindrucken zu lassen, und erzählte ihm von ihrem gestrigen Besuch in Gostenhof. Fragte ihn nach seinem Verhältnis zu Ulrich Jakobsohn und mit leisem Vorwurf in der Stimme auch danach, warum er sie nicht in seine Urlaubspläne eingeweiht habe. Dann versuchte sie, einen leicht scherzhaften Ton anzuschlagen.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Ullis Musikauswahl nach deinem Geschmack war â ich habe von Wagner, Richard nämlich nichts entdeckt. Wie hast du es da überhaupt all die Abende ausgehalten?«
Da ihre Konversation ohne Reaktion blieb, stellte sie die bemühte Plauderei schlieÃlich ein. Sie
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