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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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zustand, am Ende keine hundert Gramm mehr. Ein paar Löffel Maismehl wurden in einen großen Topf klares Wasser geschüttet, oder es wurde mit Zucker und Mais ein bisschen wildes Gemüse und ein paar Süßkartoffeln hineingegeben, ein Löffel für jeden. Jetzt, wo unsere Arbeitsgruppe die Verteilung des Getreides überwachte, war ein halbes Pfund ein halbes Pfund, kein Mensch wagte sich da heran. Die Massen konnten ihr Getreide nehmen und nach Hause gehen und es nach eigenem Gutdünken verbrauchen. Natürlich war die Hilfsmöglichkeit des Staates begrenzt. Wenn es einmal kein Getreide gab, wurden Hirsestengel herangeschafft, Reisstroh, Weizenhalme, das Ganze wurde gemahlen, mit Wasser aufgekocht, einen guten halben Tag oder eine ganze Nacht lang, so konnte man etwas Stärke gewinnen, die an die Kommunemitglieder verteilt wurde, die das Ganze dann auf ihren Kangs [77] zu Fladen trockneten, was sehr gut duftete. Außerdem wurden Leute ausgeschickt, die in einem großen Bottich menschlichen Urin sammelten. Wenn man da noch anderen Abfall hinzugab, gärte innerhalb einer Woche durch die chemische Verbindung von Abfall und Urin eine Schicht von »Moosen« auf der Oberfläche heraus, die grün war wie die Banner der chinesischen Truppen während der Kaiserzeit. Das wurde »gerührte Algenklopse« genannt. Und es war ein Nahrungsmittel. Das Ganze wurde dünn aufgehängt, mit ein wenig klarem Wasser vermengt und, wenn möglich, mit etwas Saccharin überstreut – das hatte einen sehr angenehmen Geschmack.
    LIAO YIWU:
    Ihr seid aber wirklich gute und rechtschaffene Kader gewesen!
    ZHENG DAJUN:
    Tag für Tag und Nacht für Nacht kreisten unsere Gedanken nur ums Essen, und ich will Ihnen nicht verhehlen, dass ich damals mit noch nicht einmal dreißig schlohweiß war. Wir konnten uns das Hirn noch so zermartern, die Rate der Hungertoten nahm weiter zu. Und im Frühling 1961 , als das Schlimmste vorüber war, steckte die Saat erst in der Erde und trug noch lange keine Frucht. Selbst an meinen Beinen zeigten sich Hungerödeme, von den Kommunemitgliedern nicht zu reden, wenn man dagegen drückte, kam gelbes Wasser heraus, wir schwankten nur noch so durch die Gegend. Meine drei Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe lagen mit Verstopfung im Bett, weil sie Zucker und Gemüse geschluckt hatten, und streckten den nackten Hintern in die Luft, und löffelten einander mit Ohrlöffelchen aus. Manchmal, wenn etwas zu tief steckte, banden sie den Löffel an ein Bambusstäbchen, um tiefer graben zu können. Das Blut floss in Strömen, und der Ausgelöffelte stöhnte in den höchsten und tiefsten Tönen, grausam.
    Aber damals war ich jung und hielt einiges aus – und wenn es gar nicht mehr ging, konnte ich immer noch unter Vorgabe eines Arbeitsberichts zurück zum Kreis, mich dort zwei Tage ausruhen und mir in der Kantine richtig den Bauch vollschlagen. Die Einheiten der Kreisbehörden stifteten auf Befehl der Regierung ausnahmslos Getreidescheine, aber das war, als wolle man mit einem Glas Wasser einen brennenden Reisigwagen löschen, auf den Dörfern ging der Kannibalismus weiter. Immerhin, es wurde niemand bei lebendigem Leibe aufgefressen, man schnitt nur die fetten Stücke von den Leichen.
    LIAO YIWU:
    Wie seid ihr denn mit dieser neuen Art von Kannibalismus umgegangen?
    ZHENG DAJUN:
    Das war eine Gesetzeslücke, darauf hatten wir keinen Zugriff. Wenn man einmal ethisch-moralische Bedenken beiseitelässt, dann ist Menschenfleisch einfach leichter zu verdauen und zu absorbieren als Guanyin-Erde, auch wenn man sich durch den Verzehr von Menschenfleisch (man sollte eher von Leichenfleisch sprechen) infizieren kann. Die Kommunemitglieder waren mit ihren Kräften am Ende, wenn zu Hause jemand starb, dann wurde er nur oberflächlich mit einer Schicht Erde bedeckt. Oft waren schon vor der Beerdigung die besten Stücke von den eigenen Familienmitgliedern herausgeschnitten worden – weshalb es schwer war, selbst einen in flagranti ertappten »Grabfledderer« dingfest zu machen und ordnungsgemäß zu verurteilen.
    LIAO YIWU:
    Was heißt das?
    ZHENG DAJUN:
    Das heißt, wir drückten ein Auge zu. Die harte Wahrheit war, dass die Überlebensrate von denen, die Menschenfleisch aßen, höher war als von denen, die Erde aßen. Folgende Szene habe ich mehrfach auf großen Bauernhöfen mit eigenen Augen gesehen: Sechs Kommunemitglieder, die übermäßig viel Erde gefressen hatten, hingen kopfüber an den Türen, die Beine auseinander, und die eigenen

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