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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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bestand, voran. Über den Boden schlängelten sich Bewässerungsgräben und sandten einen Geruch aus, in dem sich die Fäkalien von Mensch und Vieh mischten. Ein paar Mal sprangen wir wie die Bergziegen zwischen Kanal und Kanal hin und her. Dann gingen wir um drei größere und kleinere Schutzwände herum, die das Leben und den Abfall voneinander trennten, mussten uns dünn machen, als wir durch zwei enge Durchgänge zwischen zwei Mauern schlüpften, und plötzlich fiel es uns wie Schuppen von den Augen. Ich bückte mich und machte die Plastiktüte, die an den Schuhsohlen meiner Sportschuhe klebte, ab, und als ich den Kopf wieder hob, hatte ich das Gefühl, mir wehte ein frischer Wind ins Gesicht. In der Ferne, unter schwer aufgetürmten schwarzen Wolken erhob sich ein finsterer Hügel. Es sah aus wie ein riesiges, von Menschenmassen eingepferchtes Ungeheuer, das jederzeit brüllend über den Zaun setzen konnte. Als wir ein wenig näher kamen, war da weites Land und ein kleiner, wie ein Darm über das weite Land sich windender Fluss. In der finsteren Luft kam aus den Baumschatten hin und wieder ein tiefes Pfeifen, das klang wie das Lied unschuldiger Seelen, die an der Grenze zwischen Yin und Yang herumirrten und keine Zuflucht fanden. Unsere Führerin wandte den Kopf und sagte, dieser nach Süden liegende Hang sei früher ein Exerzierplatz gewesen, als die Volksbefreiungsarmee das erste Mal nach Zehei gekommen sei, hätten sie hier die Volksmiliz ausgebildet und ihnen Schießen und Bajonettfechten beigebracht. Später, während der Agrarreform, seien hier die großen Versammlungen abgehalten und die Grundbesitzer erschossen worden.
    Ich wollte gerade eine Frage stellen, als ein Hund bellte. Die Hunde des ganzen Dorfes fielen ein und hörten gar nicht mehr auf. Unsere Führerin stieß ein kleines Gatter auf, schimpfte in ihrem Dialekt auf die Hunde, rief einen Namen und dann betraten wir einen kleinen, von einer niedrigen Mauer eingefassten Hof.
    Ich hatte mir den Hof noch gar nicht richtig angeschaut, als ich von den gastfreundlichen Hausherren die Eingangsstufen hinauf- und in das Mittelgebäude hineingebeten wurde. Unsere Führerin stellte uns mit ein paar einfachen Worten vor, und die in der Mitte des Raumes auf einem Sofa sitzende Großmutter stand zitternd auf. Sie hatte einen Buckel, und auf ihrem von Jahresringen überzogenen Gesicht erschien ein Lächeln. Sun Yisheng und ich beeilten uns, sie zu stützen – in meinem kleinen Bericht spielt diese alte Dame die Hauptrolle, sie war 84  Jahre alt, Grundbesitzerwitwe und hieß Zhang Meizhi. Ihr gegenüber, durch ein Feuerbecken von ihr getrennt, saß ihre vierte Tochter Yang Sixian, sie war 59 ; ihr fünfter Sohn Yang Siyi war jetzt 57 .
    Als eine einvernehmliche Atmosphäre hergestellt war, nutzte ich die Gelegenheit und packte mein Tonbandgerät aus. Es war acht Minuten nach acht, der Wind draußen legte sich auf einmal, und der Mond war wie weißgewaschen; doch unter dem trüben Lampenlicht im Innern, wo ununterbrochen geweint wurde, erschien in den längst von Staub bedeckten Erinnerungen ein Riss …
    ***
    LIAO YIWU:
    Heute Nachmittag habe ich mit Zhang Zhanglao von der christlichen Kirche gesprochen und bin am Hof Ihrer Familie vorbeigekommen, ich fand diese orangegelb gesprenkelte alte Mauer unter den glattgrünen Ziegeln etwas ganz Besonderes. Das ist eine ganz andere Art als bei allen anderen Bauernhöfen ringsum. Ich habe von der Mauer ein Foto gemacht und Zhang Zhanglao gefragt, ob ich die Besitzer dieses Hofes kennenlernen könnte.
    Er sagte: »Das ist der Hof der größten Familie der Gegend, aber heute steht davon nur noch die Fassade, darin kann man nicht mehr wohnen, also hat man es zu einem Kuhstall gemacht.«
    »Und die Leute?«, fragte ich.
    »Die sind schon vor Jahrzehnten umgezogen«, sagte Zhang Zhanglao …
    ZHANG MEIZHI:
    Damals, in den Jahren der Bodenreform, wurden wir vertrieben, man hat uns in den Kuhstall neben unserem Haus gepfercht. Und die armen und mittleren Bauern waren obenauf und die neuen Herren unseres Hofes.
    LIAO YIWU:
    Erzählt doch bitte ein wenig von damals, als Zeitzeugen.
    ZHANG MEIZHI:
    Zeitzeugen?
    LIAO YIWU:
    Ja, die Bodenreform von 1952 ist heute schon sehr weit weg, wer heute um die fünfzig ist, hat zwar davon gehört, aber die Erinnerung daran ist längst verblasst. Und die mit vierzig nur um ein weniges Jüngeren kennen sie, wie zu befürchten ist, nur aus Romanen, Filmen und offiziellen Lehrbüchern; es wird

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