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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Drittältester ist mit zwölf gestorben, ein ganz traurige Sache.
    Die Kinder, die mir noch geblieben waren, waren alle hier, ach, das ist eine lange Geschichte!
    Die alte Dame hob bei diesem Satz den Kopf und schaute zur Decke, sie hatte Tränen in den Augen. Dann ließ sie den Kopf hängen, sagte »Tagediebe, Tagediebe« und stemmte energisch die Hände in die Hüften. Sie sahen aus wie Baumwurzeln.
    LIAO YIWU:
    Wenn die Großmutter müde ist, könnten Sie dann weitererzählen?
    YANG SIXIAN:
    Ja.
    LIAO YIWU:
    Sie waren damals erst fünf Jahre alt, haben Sie noch deutliche Erinnerungen an alles?
    YANG SIXIAN:
    Obwohl ich noch klein war, sind mir diese Bilder tief in die Seele gebrannt! Es ist nur schade, dass man mir schon als Kind das Recht zu lernen genommen hat, ich bin ganz ungebildet und nicht in der Lage, die bittere Geschichte aufzuschreiben, so wie ihr Schriftsteller das könnt.
    LIAO YIWU:
    Wenn Sie mir alles erzählen, ist das genauso gut.
    YANG SIXIAN:
    Papa und mein Onkel sind in einem Jahr festgenommen und ermordet worden, im Dorf wurde insgesamt ein gutes Dutzend Grundherren umgebracht, alle unten am Fluss. Man erzählt sich, das Wasser hätte sich verfärbt und die Fische am Grund des Flusses hätten rote Augen bekommen, weil sie zu viel Blut getrunken haben, sie seien am helllichten Tag nach oben gekommen. Wenn mein großer Bruder nicht weggelaufen wäre, dann hätte er das gleiche Ende genommen wie mein Vater. Damals gab es keine ordentlichen Gerichte, es gab auch keine Untersuchungen, wenn jemand behauptete, du hättest Leute von der Volksbefreiungsarmee umgebracht, dann konntest du dich nirgends rechtfertigen, du konntest nur noch brav den Kopf abgeben.
    Mein großer Bruder war auf der Mittelschule, in unserem Dorf war das schon so etwas wie ein richtiger Intellektueller, denn er hatte in Büchern etwas über den Wechsel von Dynastien und so fort gelesen. Wenn die neue die alte Kaiserfamilie umbrachte und sie bis ins siebte Glied verfolgte, dann war das nicht anders zu erwarten. Deshalb ist er 1952 geflohen. Zu Mutter sagte er, er wolle von Bo Yi und Shu Qi [83] lernen und auf den Shouyang-Berg hinauf. Ich habe das damals nicht verstanden, denn in der Umgebung von Zehei gab es überhaupt keinen Berg, der Shouyang hieß.
    Ich erinnere mich, der Abend, an dem er damals geflohen ist, das war ein Abend wie heute, der Wind rüttelte an den Dachziegeln, hin und wieder zeigte der Mond sein bleiches Gesicht, es sah aus wie von einem am Galgen.
    LIAO YIWU:
    Wie konnten Sie als kleines Mädchen den Mond für einen Gehängten halten?
    YANG SIXIAN:
    Ich hatte vor nichts solche Angst wie vor dem Mond. Wenn es dunkel war und kein Mond schien, waren wir halbwegs sicher und konnten uns auf freiem Feld etwas zu essen suchen. Mein großer Bruder hat sich niemals ausgezogen, wenn er sich schlafen legte, und einen kleinen Packen mit Büchern benutzte er als Kopfkissen, so konnte er, wenn sich draußen etwas tat, wie eine Feder aufspringen, sich seinen Bücherpacken greifen und an einem Balken in der Ecke des Zimmers auf das Dach klettern, dort war ein Loch, dafür hatte er schon vorher gesorgt, in normalen Zeiten war es mit einem Pfropf aus Lehm verstopft und nicht einfach auszumachen.
    Die Erwachsenen unserer Familie waren alle verhaftet, und als sie am helllichten Tag Mama verhafteten, klammerten wir Kleinen uns an ihre Beine, aber die Milizsoldaten schlugen uns mit den Gewehrkolben und traten nach uns. Wir Kinder waren in Tränen aufgelöst, während mein ältester und zweitältester Bruder apathisch der Szene folgten, äußerlich völlig abgestumpft, innerlich aber dabei, sich etwas auszudenken. Später hat mein großer Bruder gesagt, der Kompaniechef der Miliz habe ihn mehrfach ins Auge gefasst, da hätten sich ihm die Haare gesträubt, aber ich und meine kleinen Geschwister verstanden immer noch nicht, wir schrien herum, wir hätten Hunger, und da kein Erwachsener mehr da war, traten halt die älteren Brüder an Vaters Stelle.
    Mein großer Bruder kochte uns ein paar Süßkartoffeln, er selbst aß nichts; er hieß uns schlafen gehen und lugte immer wieder durch den Türspalt nach draußen. Es dauerte nicht lange und ich träumte, wie mein großer Bruder einen großen Schritt aus dem Türspalt hinaustrat. Ich wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus, ich wollte mich umdrehen und ihn zurückhalten, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich wusste im Traum, dass ich träumte, und ich sagte noch, großer

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