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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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des japanischen Folksängers Okamoto Nobuyasu [82] : »Du bist du, du wirst niemals ich sein, und wenn du leidest, stehe ich nur da und sehe dich an.«
    »Ich sehe dich an«, das war schon nicht schlecht, doch man durfte nicht stehen bleiben. Wenn man hingesehen hat, was tut man dann, geht man einfach weiter? Oder macht man es wie ich, schreibt das Ganze nieder, bringt es an die Öffentlichkeit und belädt dein, mein und unser Leben mit dieser zusätzlichen, völlig nutzlosen Traurigkeit und dieser kurzlebigen Betroffenheit?
    Und dann?
    Die Erde dreht sich weiter, die Regime regieren weiter, die Menschen leben und sterben ihr Insektenleben, und können sie an irgendetwas das Geringste ändern? Und wo ist Gott? Lacht er sich nicht tot, wenn er mir zusieht, wie ich hier diese illusorischen Probleme wälze?
    Die anständigste Antwort ist, dass dieses Volk eine Geschichte braucht. Sonst sind Staat, Volk, Regierung und derlei Dinge nichts als leere Worte, ein Wahnsinn, der den Menschen nichts bringt als Kummer und Katastrophen.
    Halt, mach dir keine überflüssigen Gedanken!
    LIAO YIWU:
    Ich weiß nicht, was ich sagen kann, aber wir sollten weitermachen. Ich stamme auch aus einer Grundbesitzerfamilie. Als das Land und der Hof meines Großvaters beschlagnahmt und aufgeteilt wurde und die Menschen sich mit dem Kampf beschäftigen mussten, war mein Vater in einem anderen Kreis Lehrer. Er wagte nicht zurückzukommen, aus Angst, die Leute könnten ihm vorwerfen, sein Klassenstandpunkt sei nicht belastbar. Später habe ich in unserer alten Heimat gelernt, dass mein Großvater und meine Großmutter zu den Vier Üblen Elementen gerechnet wurden, sie mussten fast jeden Tag Angriffe über sich ergehen lassen, man hat ihnen schwarze Schilder umgehängt und sie durchs Dorf geführt. Manchmal haben die Milizsoldaten Ziegelstücke aufrecht hingestellt und meinem Großvater befohlen, sich da drauf zu stellen. So eine Folter hält man nur ein paar Minuten durch, dann fangen die Waden an zu zittern und man bricht zusammen. Ein, zwei Stunden lang musste mein Großvater sich dutzende Male dieser Prozedur unterziehen, bis er sich nicht mehr hochrappeln konnte …
    ZHANG MEIZHI:
    Das ist noch gar nichts! Nachdem sie meinen Mann und meine Bruder umgebracht hatten, haben sie auch mich gegriffen und vierzig Tage und vierzig Nächte am Stück »bekämpft«, wie das hieß. Immer die Hände auf den Rücken gebunden, nur zum Essen und zum Frischmachen wurde ich losgemacht. Weil sie mich nicht nach Hause ließen, hat mein zwei Jahre altes Mädchen keine Milch bekommen und ist bei lebendigem Leibe verhungert.
    LIAO YIWU:
    Wie viele Kinder hattet Ihr?
    ZHANG MEIZHI:
    Die nicht gerechnet, die bei der Geburt starben, hatten wir damals fünf Söhne und zwei Töchter. Mein Mann, mein kleiner Kreisvorsteher, hatte nach neunzehn Jahren wieder geheiratet, und als ich dann hier einheiratete, waren die Kinder, die ihm seine verstorbene Frau hinterlassen hatte, schon erwachsen. Der Älteste hieß Yang Siyuan und war neunzehn. Noch in der alten Gesellschaft hatte er die Unterstufe der Mittelschule im Kreis Wuding besucht, nach der Befreiung wurde er in den Fall der Familie verwickelt, konnte die Schule nicht abschließen, außerdem wurde an ihm ein Rufmord begangen, er sei ein schlechter Mensch und habe vorgehabt, Soldaten der Befreiungsarmee umzubringen. Himmel, der Gute war ein Büchermensch und so zart besaitet, der hätte nicht einmal gewagt, ein Gewehr auch nur anzufassen, und da soll er jemanden umgebracht haben? Aber er traute sich nicht, das zu sagen, das Ganze war zu groß, also musste er sehen, dass er sich in Sicherheit brachte. Er versteckte sich in den Bergen und lebte dort wie ein Wilder, zwei Jahre lang. Er wurde erst 1952 gefasst und zu zwanzig Jahren verurteilt; mein Zweitältester hieß Yang Sipu und war noch keine sechzehn. Er ging hier zur Schule, wurde von den armen und mittleren Bauern angezeigt, sein Vergehen nannten sie »Verfassen von konterrevolutionären Parolen« …
    LIAO YIWU:
    Was für konterrevolutionäre Parolen?
    ZHANG MEIZHI:
    Ich weiß es auch nicht, seine Ankläger waren Analphabeten, aber es waren arme und mittlere Bauern, alle in der Wolle rot gefärbt. Die Arbeitsgruppe glaubte alles, was sie sagten. Und so wurde mein Zweitältester verhaftet und zu sieben Jahren verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe musste er weiter dort bleiben, so dass er am Ende fast dreißig Jahre im Gefängnis gesessen hat, wie sein Bruder. Mein

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