Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

ging nicht mehr. Da waren keine Zähne und keine Zunge mehr, nur noch ein ganz eingeschlagenes rundes Loch, die Unterkiefer waren kurz davor abzufallen.
    Mama hat sie einen halben Tag lang gewaschen, ich habe mit meinem Bruder ein paar Mal Wasser geholt, wir sind vor Hunger fast umgekommen, aber wir haben uns nicht getraut, etwas zu sagen. Es wurde langsam dunkel, aber wir hatten nicht die Kraft, unsere Angehörigen ins Haus zu tragen. Die Sonne ging hinter den Hügeln unter, ein heftiger Wind kam auf, es war, als ob Gespenster weinten und Wölfe heulten, und der Wind drehte krachend die Ziegel auf dem Dach um, ein Geräusch, als ob in der Dunkelheit Krallen unterwegs wären. Wir rückten auf dem Heuhaufen zusammen und konnten schon nicht mehr weinen, oder wir hatten keine Kraft mehr dazu. Ich habe innerlich unzählige Male nach meinem Vater und nach meinem Onkel gerufen, in meinem Kopf werden sie für immer die gütigen Menschen bleiben, die sie waren, sie haben immer die Wahrheit gesagt, sie haben nie schlecht über jemanden geredet, sie haben nie jemandem ein Haar gekrümmt, selbst die Landarbeiter bei uns hatten immer ein Lächeln im Gesicht. Ich verstand nichts von irgendeinem Klassenkampf, ich verstand nicht, warum sie hatten sterben und warum sie ein so grausames Ende hatten finden müssen.
    ZHANG MEIZHI:
    Am Tag darauf nahm ich heimlich Kontakt zu meiner Familie auf, wir trugen die beiden auf Brettern auf den Berg hinauf, wo wir sie notdürftig begruben, wir wagten nicht einmal, einen sichtbaren Grabhügel zurückzulassen. Wir waren ganz durcheinander, hatten vor Hunger auch keine Kraft mehr und haben nur eine flache Grube ausgehoben. Noch in der gleichen Nacht wurden die sterblichen Überreste unserer Lieben von wilden Tieren ausgegraben, am nächsten Tag waren die Leichen bis auf die Knochen abgenagt, die verstreut in allen Himmelsrichtungen herumlagen. Es war eine Sünde. Also sammelte ich die Knochen ein und begrub sie noch einmal.
    LIAO YIWU:
    Ach, die Menschen verlöschen wie ein Licht, aber dann sollte die Tragödie auch ein Ende haben!
    ZHANG MEIZHI:
    Es war noch lange nicht vorbei, es hatte noch lange kein Ende! Wie viele aus meiner Familie sind bei der Bodenreform ums Leben gekommen? Lassen sie mich rechnen – in der Familie des Kreisvorstehers wurde der Schwiegersohn erschossen, seine Tochter hat in größter Verzweiflung erst ihre Kinder mit einem Seil erdrosselt, die eigenen Kinder, und dann mit Gift ihrem Leben ein Ende gesetzt; in der Familie des zweitältesten Bruders, dem Chef der Sicherheitstruppe, wurden er selbst und seine beiden Söhne gleichzeitig hingerichtet. Bei dem Drittältesten, dem Distriktsvorsteher, also in unserer Familie, starben der Vater, der Onkel, drei Söhne und Großmutter und Großvater mütterlicherseits …
    LIAO YIWU:
    Sie wurden alle öffentlich hingerichtet?
    ZHANG MEIZHI:
    Die Großmutter meiner Kinder wurde von der Volksmiliz aus dem Haus geschleppt und bei lebendigem Leibe totgeschlagen. Der Großvater wurde halbtot gequält und nutzte den Dienstschluss der Miliz, um sich im Gefängnis an seinem Gürtel aufzuhängen. Mein Drittältester starb 1954 , die Miliz hatte ihn in den Hügeln entdeckt und erschossen. Mein viertjüngster Bruder war damals gerade einmal zwanzig Jahre alt und erst ein paar Tage verheiratet, er war eine ehrliche Haut und verbrachte seine Tage wie immer. Aber er wurde in das Ganze hineingezogen und man befahl, ihn zu erschießen. Was für ein Unrecht!
    LIAO YIWU:
    Ein Menschenleben war wirklich nicht mehr wert als ein Grashalm!
    ZHANG MEIZHI:
    Sollte aber ein Menschenleben nicht mehr wert sein als ein Grashalm? Wenn sie schon alle draußen wachsen, sollte dann nicht wenigsten gleiches Recht für alle gelten, für jeden Grashalm?
    An diesem Punkt des Gesprächs war der Raum von Wehklagen erfüllt. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Tonbandgerät für eine Weile abzustellen, und wie ein reuiger Sünder den Kopf zu senken. Draußen wütete der Sturm, es war, als sei da eine Unzahl von Füßen, die knarrend über den Dachbalken trappelten. Ich hatte schon zahllose solcher Justizmorde untersucht und mich eigentlich für abgehärtet gehalten. Aber jetzt war ich doch mit einem Mal ganz durcheinander – was hatte es für einen Sinn, diesen Dingen auf den Grund zu gehen? Das waren doch alles Menschen, sie alle hatten das Recht, diesen Albtraum zu vergessen und sich für ein etwas leichteres Leben zu entscheiden.
    Ich hörte wieder die Stimme