Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
längst vergessen, dass ich eigentlich Leichenschminker war.
LIAO YIWU:
Ab wann habt ihr dann mehr zu tun gehabt?
ZHANG DAOLING:
In den drei schlechten Jahren während der Naturkatastrophen, in unserem Kreis sind Zehntausende verhungert, an Beerdigen war nicht zu denken, so viele Särge konnte man nicht machen, man konnte die Toten nur in eine Strohmatte hüllen und zu uns schicken. In der zweiten Jahreshälfte von 1960 sind wir der Arbeit gar nicht mehr Herr geworden, am Anfang haben wir sogar Nachtschichten eingelegt, das war damals ganz anders als heute, wo man einen Schalter umlegt und die Leichen automatisch in den Ofen eingefahren, verschlossen und eingeäschert werden. Damals war es Schwerstarbeit, die Leichen in die Öfen zu schaffen, manchmal wurde der Schalter ausgelöst und der Feuerstrahl ging vor der Zeit los und versengte einem das Gesicht. Dazu standen die Angehörigen draußen und weinten, man hatte das Gefühl, man sei ein Mörder.
LIAO YIWU:
Aber Sie waren doch Kosmetiker! Wieso haben Sie auch am Ofen gearbeitet?
ZHANG DAOLING:
Was für ein Gesicht soll man da schminken, bei den verhungerten armen Teufeln! Am Anfang habe ich die heraushängenden Zungen noch in den Mund zurückgeschoben und ihnen Watte unter die Backen gestopft, später haben wir dann auf nichts mehr Rücksicht genommen, wenn man sich einredete, das sei nichts weiter als ein Bündel Brennstroh nach dem anderen, dann ging es. Im Frühjahr 1961 dann waren die Vorräte aufgebraucht, die Leute, die wahllos durch das Land und die Berge streiften, gingen in die Tausende, sie stopfen alles in den Mund, was sie fanden: Rinde, Wurzeln, wildes Gemüse, sogar Insekten. Natürlich konnte man auf den kahlen Höhen ein paar gute Dinge sammeln. Manch einer lief in den Bergen hin und her, und wer mit einem Schnaufer umfiel, blieb für immer unten. Wir standen mit den vom Kreis zur Verfügung gestellten Leichen- LKW s an der Straße, am Fuß der Berge, und warteten, dass die Basiskader und die Miliz die Fünf Üblen Elemente, also Grundbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, schlechte und rechte Elemente aneinandergebunden den Hang hinaufführten, um nach Leichen zu suchen. Aber auch die Fünf Elemente waren vor Hunger am Ende, wenn man ihnen keine Mantous gab, dann legten sie die Hände um den Kopf und rollten sich zusammen, sie standen nicht auf, da konnte man mit den Gewehrkolben auf sie einschlagen, wie man wollte. Und dann erfand unser Parteizellensekretär eine Methode, wie man die Leichen loswerden konnte: Man band sie mit einem langen Seil zusammen, nutzte den Zug, den sie aufeinander ausübten und rollte sie zu Tal. Das hat eine ganze Menge Arbeitskraft gespart.
LIAO YIWU:
Haben Sie selbst nicht unter Hunger gelitten?
ZHANG DAOLING:
Eine Grundration konnte uns noch garantiert werden, aber einen Bauch anfressen konnte man sich damit nicht, dafür war es zu wenig. Der Kreis hielt unsere Einheit für besonders wichtig, beim Personal und bei den Öfen des Instituts durfte keine Störung vorkommen. Anfang 1962 kam es schließlich zu Kannibalismus, die Leichen, die aus den Bergen heruntergeschafft wurden, waren zerrissen, ihnen fehlten Gliedmaßen, an Oberschenkeln, Oberarmen, Schultern und Gesäß fehlte das Fleisch, die Leitung gab Anweisung, das Ganze schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen. Damals versteckte sich die Miliz tagsüber und kam nachts heraus, einige von den verrückt gewordenen Kannibalen wurden auch gefasst und verurteilt. Nun raten Sie einmal, was der Grund dafür war, dass sie Menschenfleisch gegessen hatten? Nicht etwa, weil Menschenfleisch gut schmeckt, sondern weil sie sich den Bauch mit Zuckerfladen und Guan-yin-Erde vollgestopft hatten, daraufhin ist ihnen der Unterleib aufgeschwollen, und sie konnten nicht mehr aufs Klo, sie brauchten das Menschenfleisch, um den Darm gleitfähig zu machen.
LIAO YIWU:
Da seid Ihr aber noch gut weggekommen! Ich litt 1962 unter Wassersucht, es hat nicht viel gefehlt und ich wäre gestorben, deshalb habe ich bis heute eine Heidenangst vor dem Hunger. Damals war mein Vater Kader und hat heimlich etwas von seinen Rationen abgeknapst und es mit nach Hause gebracht, er selbst hat sich irgendwo außerhalb durchgeschnorrt. In einer Tasche seines Sun Yatsen-Anzugs steckten ordentlich zwei Füllfederhalter und ein Löffel für die Suppe – wann immer er jemanden mit einer Schale vorbeikommen sah, steckte er kichernd seinen Löffel hinein und probierte. Sein Blick war scharf,
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