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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Panzern auf die Massen losgehen würde. In den Auseinandersetzungen der beiden großen Fraktionen während der Kulturrevolution sind auch die Massen aufeinander losgegangen, aber das waren wilde Haufen, und als Mao ein Machtwort gesprochen hat, haben alle die Waffen wieder abgegeben. Das war etwas anderes, als wenn reguläre Truppen ausrückten, ihre Gegner sollten der amerikanische Imperialismus, die Sowjetrenegaten oder die Dynastie von Tschiang Kaishek sein und keine patriotischen Leute von der Straße.
    Am nächsten Vormittag, es war kurz nach zehn, klopfte das Zimmermädchen, um sauber zu machen. Sie kam herein und erschrak.
    Sie sagte: »Mein Herr, Sie schlafen noch?«
    Ich stand auf und sagte: »Na und?«
    Sie zeigte zum Fenster und meinte, die Scheibe sei kaputt. Und tatsächlich, ein verirrtes Geschoss hatte sie getroffen und an der Wand gegenüber dem Bett ein großes Loch hinterlassen!
    Ich hatte ziemliches Glück, dass ich noch am Leben war! Wenn ich mich am Abend zuvor ans Fenster gestellt hätte, wäre es gut möglich gewesen, dass ich die Nacht nicht überlebt hätte. Man erzählte sich, im neunten Stock habe einer den Kopf herausgestreckt und sei von einer Kugel getroffen worden. Konnte ich in so einer Situation noch so tun, als ginge mich das Ganze nichts an?
    LIAO YIWU:
    Sie haben sich mitreißen lassen?
    WAN BAOCHENG:
    Ich war ganz bedrückt, aber ich behielt noch einen klaren Kopf. Bis ich einen Blick aus dem Fenster warf, da stand fest, dass ich ein Politischer werden würde.
    LIAO YIWU:
    Haben Sie den Bankdirektor vergessen?
    WAN BAOCHENG:
    Blödsinn. Auf der Kreuzung stand alles voller bis an die Zähne bewaffneter Truppen, sie hatten Stahlhelme auf, ein paar Minuten zuvor war ein Panzer über die Kreuzung gerast. Ich bekam mit, wie ein Soldat der Volksbefreiungsarmee einen jungen Kerl anbrüllte: »Stehen bleiben!« Der Junge war ganz durcheinander und nahm dann die Beine in die Hand. Der Soldat gab mit seinem Sturmgewehr aus der Hüfte heraus, mit einem Arm, da-da-da, eine Salve ab, der Kleine fiel vornüber und blieb dann reglos auf dem Boden liegen. So etwas hatte mein Vater bei der Achten-Route-Armee sicher nie gesehen.
    Ich stand da wie angenagelt, bis das Zimmermädchen mich zum Bett zurückzog. Sie sagte immer wieder, ich solle um Himmels willen nicht aus dem Fenster schauen. Die Soldaten seien im Blutrausch, in so einer Ausnahmesituation sei schon manch einer von einer verirrten Kugel getroffen worden. Ich setzte mich an den Schreibtisch, nahm einen Stift und ein Blatt Papier und schrieb. Früher hatte ich Resümees geschrieben, Berichte und Projekte, aber diesmal beschrieb ich die Szene, die ich gerade mit eigenen Augen miterlebt und die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte. Und ich beschrieb diese Szene so gut, dass es mich selbst zu Tränen rührte. Ich dachte ganz naiv, ich hätte mit Politik nichts zu tun, aber die Kommunistische Partei müsse rechtschaffen sein, eins war eins und zwei war zwei, ich hatte lange in der Wirtschaft gearbeitet und wusste, was man nur gehört hatte, bedeutete gar nichts, nur was man mit eigenen Augen gesehen hatte, war wirklich.
    Es waren mehrere Seiten, die ich dann fein säuberlich noch einmal ins Reine schrieb und denen ich den Titel gab »Augenzeugenbericht vom 4 . Juni«. Ich suchte heimlich einen Ort, wo ich von dem Ganzen hundert Kopien machen konnte, und habe die dann auf dem Rückweg im Zug verteilt. Obwohl damals das Land einem einzigen Truppenlager glich, bestand die Möglichkeit, dass es hinterher eine Untersuchung geben würde, aber ich war ein Wirtschaftskader und so ziemlich über jeden Zweifel erhaben. Als ich wieder zu Hause war, ruhte ich mich ein paar Tage aus, bevor ich wieder zur Arbeit ging. Das Leben war wie immer, von außen gesehen hatte sich nichts verändert, aber ich hatte ein schlechtes Gewissen.
    So ging das über einen Monat, ohne dass irgendetwas geschah. Ich nahm an, dass die Massen über das Massaker vom 4 . Juni so ihre eigene Meinung hatten, sie hatten Mut genug, um wütend zu sein, aber um etwas zu sagen, reichte es nicht. Deshalb hätte mich mit meinem Flugblatt auch niemand denunziert. Dachte ich. Ach, wenn es um Politik geht, wer weiß da schon genau, was richtig ist und was falsch? Ich hatte diesen »Augenzeugenbericht vom 4 . Juni« verfasst, ohne an eine mögliche Gefahr für mein Leben zu denken, aber als ich die Dokumente des Zentralkomitees zur Niederschlagung der Rebellion studierte, musste ich

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