Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
eine Wandzeitung während der Kulturrevolution. Da steht immer etwas von »konterrevolutionär«, »aggressiv«, »Umsturzkomplott« und dann noch einige Animalisierungen wie »tollwütige Hunde«. Über den Tatbestand nur zwei, drei Worte und aus. Wie es aussieht, haben Sie Flugblätter gemacht?
    WAN BAOCHENG:
    »Augenzeugenbericht vom 4 . Juni« nannte sich das.
    LIAO YIWU:
    Waren Sie »Augenzeuge« des 4 . Juni? Waren Sie damals in Peking?
    WAN BAOCHENG:
    Ich war auf Dienstreise, eine Kreditzahlung war fällig. Unser Handelspartner zögerte die Zahlung hinaus, also bin ich persönlich nach Peking, um das Geld einzutreiben. Eigentlich hätte man auch jemanden aus der Kreditabteilung schicken können, aber dann war die Überlegung, dass bei den damals herrschenden Studentenunruhen und bei der verworrenen Marktlage jemand aus der Führung doch vorsichtiger zu Werke gehen würde.
    LIAO YIWU:
    Hat Sichuan bis nach Peking Kredite vermittelt?
    WAN BAOCHENG:
    Die hatten früher ein Büro in Sichuan, das haben sie aufgegeben und sich wieder auf Peking konzentriert. Kurz, ich bin im Mai hingeflogen und hatte überhaupt keine Ahnung von der aktuellen Lage, die Leute auf dem Pekinger Markt waren in Panik, in unserem Pekinger Büro war nur, wer gerade Dienst hatte, und wie es hieß, waren alle Führungskräfte als Patrioten auf dem Tiananmen. Ich hatte meinen Auftrag, ich hatte keine Lust auf irgendwelche Eskapaden und habe mich also in der Nähe der Cuiwei-Straße in einem Hotel häuslich niedergelassen. Mein Zimmer war im ersten Stock, das Fenster ging direkt zur Straßenkreuzung hinaus, wo Tag für Tag Pekinger Bürger und Studenten hin und her liefen. Abends sammelte man sich hier und da in Grüppchen und tauschte Neuigkeiten aus. Die Volksbefreiungsarmee war schnell in der Stadt, die einen behaupteten, es waren dreißig-, die anderen, es waren vierzigtausend Mann. Nachts, wenn es still war, konnte man immer das Dröhnen der Kolonnen hören, sie fuhren Richtung Wanshou-Straße. Die Stellung, die Sichuan einnahm, war zu einseitig, und als es in unsere Städte ging, wurde es noch einseitiger. Die Studentenunruhen bestanden im besten Fall aus Demonstrationen, und überall waren Parolen gegen Bürokratismus und Korruption zu sehen. Die Leute vom Stadtkomitee debattierten den halben Tag herum und dann gingen alle nach Hause. In Peking war die Atmosphäre viel angespannter, große Truppenkontingente standen direkt vor der Stadt. Die Leute liefen in Scharen zum Tiananmen, das war eine wirkliche Revolution, während sie sonstwo nur auf die großen Plätze liefen und fertig. Die Gerüchteküche brodelte, es gab sogar das Gerücht, Luftlandetruppen seien ausgerückt. Ich in meiner Borniertheit war auf keinen Fall bereit, so etwas zu glauben. Mein Vater war Veteran der Achten-Route-Armee und hatte unter der Führung der Kommunistischen Partei 1937 bis 1945 gegen die Japaner gekämpft, seine Loyalität zur Partei war unerschütterlich, und ich hatte viel davon geerbt. Und wenn um mich herum alle verrückt spielen wollten, bitte, ich würde die Ruhe bewahren und da nicht mitmachen! Ich schloss mich also in mein Hotelzimmer ein und las meine Akten.
    Das hielt ich durch bis zum Abend des dritten Juni, auf den Straßen versammelten sich immer mehr Leute, das ganze Hotel war wie ausgestorben, selbst das Personal ging auf die Straße. Auf der Treppe wurden Reden gehalten, man versuchte, die Militärkonvois aufzuhalten, man wollte nicht zugeben, dass die Volksbefreiungsarmee in die Innenstadt fuhr und gegen die Studenten vorging. Die Stimmung war aufgeheizt, solche Bilder kannte ich nur aus der Kulturrevolution. Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber auch jetzt noch habe ich mich weiter herausgehalten und bin früh zu Bett gegangen.
    In der Nacht dann wurde die Unruhe draußen immer größer, der Befehl zur Verhängung des Ausnahmezustands war schon mehrfach durchgesagt worden, aber die Leute scherten sich keinen Deut darum und haben die Kreuzung abgeriegelt. Ich habe das Fenster geschlossen und hatte gerade das Licht ausgemacht, als sich auf der Scheibe ein Feuer spiegelte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch immer im Kopf, dass ich eine Führungskraft war und nicht hier, um mir dieses Spektakel anzuschauen, also nahm ich eine Schlaftablette.
    Ich wusste nicht, ob ich träumte oder wachte, aber ich hörte Schüsse. Ich hätte im Leben nicht gedacht, dass die Volksbefreiungsarmee einmal auf die eigenen Bürger schießen und mit

Weitere Kostenlose Bücher