Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
drüber, ich bin längst abgestumpft. In wen könnte ich mich noch verlieben? Und außerdem, wenn man irgendwo lange war und woanders neu anfängt, gibt es wieder jede Menge von realen Problemen – ich fühle mich schon leer und verloren, wenn ich diese Kneipe verlasse, von Chengdu gar nicht zu reden.
LIAO YIWU:
Wenn Sie das schon eine Reihe von Jahren machen, müssten Sie doch auch einige Rücklagen haben. Sie könnten für eine Weile aufhören und ein anderes Leben versuchen.
FRÄULEIN WANG:
Wie man lebt, ist nicht wichtig, der Knackpunkt ist, dass Arbeit schwer zu finden ist. Ohne das Nötigste für den Tag zu haben, kann man nicht einfach ans Eingemachte gehen. Jede Zeit hat ihre Opfer, wir haben unseren Anteil bezahlt, die nächste Generation wird es besser haben.
Mein Gott, da habe ich heute Abend doch tatsächlich einen Schüler des Konfuzius getroffen! Ich glaube, mein Niveau hat sich schon um einiges gehoben, wahrscheinlich hoffen Sie, mein Herr, dass ich in ein buddhistisches Nonnenkloster gehe?
LIAO YIWU:
Gut, es reicht, tanzen wir!
FRÄULEIN WANG:
Haben Sie wirklich kein Interesse an mir? Nicht dass Sie es nachher bereuen! –
Ich mache mich lächerlich, ich habe ein paar Gläser zu viel, mir ist ein wenig schwindlig.
LIAO YIWU:
Ich danke Ihnen, ich habe heute Abend viel gelernt!
Der Straßensänger
Queyue lernte ich vor vielen Jahren kennen. Ich war kurz zuvor erst aus dem Gefängnis gekommen, Frau und Kind waren fort, ich saß ziemlich in der Tinte. Um mich irgendwie durchzuschlagen, blieb mir ohne ein Netz zuverlässiger sozialer Beziehungen nichts übrig, als den Gesichtsverlust in Kauf zu nehmen, ich klemmte meine lange Dongxiao-Flöte [120] unter den Arm und tingelte durch Bars und Teehäuser, um so Geld zu verdienen. Unschlagbar gut war ich darin, mal Flöte zu spielen, mal zu brüllen, ich nannte das »Gebrüll mit Flöte«. Kaum war ich mit dem Spielen durch, warf ich ein illegales Band auf den Markt, das der Titel »Flöte und Gebrüll« krönte. Der Verkauf funktionierte dann ähnlich wie das Hausieren mit den Zeitschriften für Untergrundlyrik in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Queyue war noch mehr auf sein Vorankommen aus als ich. Er verdiente seinen Lebensunterhalt nicht nur als Straßensänger, sondern stürmte bis tief in die Nacht auf alle Bühnen ringsum, und so begegneten wir uns irgendwann in einer Bar. Wegen einer Missbildung seines linken Auges trug er das ganze Jahr über eine sich bei Licht verdunkelnde Brille und glich in seiner gebildeten und vornehmen Art ein wenig dem Regisseur Wong Kar-Wai, der den Film »In the Mood for Love« gedreht hat. Bei mir, dieser heruntergekommenen Abart eines Literaten, dessen Krach Dachziegel zum Vibrieren brachte, löste das Unwohlsein aus. Auch war sein Gesang lässig, oft mit Kopfstimme, was, völlig unerklärlich warum, der Jugend gefiel, besonders auf den kleinen Bühnen der Tanzbars.
Ich wusste nicht, dass er ein Kind von Blinden war.
Ich wusste ebenfalls nicht, dass er im Gefängnis gesessen hatte.
Und ich wusste natürlich schon gar nichts von seinen innersten seelischen Schmerzen, meine eigenen waren ja noch nicht abgeklungen.
Aber schließlich wurden wir doch Freunde, und wir hielten den sporadischen Kontakt aufrecht, bis ich meine Karriere als Straßenkünstler beendete. Ich erinnere mich an den Sommer 1996 , als er mit einer neugekauften Dongxiao-Flöte in den Händen plötzlich vor meiner Tür stand und meinte, er wolle das von mir lernen. Ich wies ihn an, zuerst einmal ruhig zu atmen, dann das Bambusrohr senkrecht zu halten und in einem Zug durchzublasen. Plötzlich, er hatte noch nicht zur Hälfte hineingeblasen, bekam er einen Hustenanfall, er hatte eine chronische Bronchitis schon seit seiner Kindheit.
»In der Verfassung gehst du immer noch auf die Straße?«, staunte ich.
»Musizieren und Singen sind vor allem eine Sache des Gefühls. Wenn der Körper gesund ist, kann er zu einem guten Instrument werden und jeder Schmied sich zu einem guten Sänger machen.«
Ich nickte zustimmend, aber ich sagte mir, dass der Kerl viel zu sehr von sich eingenommen sei, er war nicht aus dem Stoff, aus dem man Schüler macht.
Am 13 . Juni 2003 , einem Samstagnachmittag, verabredeten Queyue und ich uns vor meinem Haus in Huangzhong, einem Kleinbezirk von Chengdu, erneut zum Tee. Damals schlug er sich schon eine Weile recht gut in der Untergrundmusikszene durch. Weil er Chengdu bald verlassen wollte, um
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