Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
sich weiter weg niederzulassen und als Straßenkünstler tätig zu sein, holte ich nicht ohne Bedauern mein Aufnahmegerät hervor und machte ein Interview mit ihm.
Als habe sein Leben jetzt erst angefangen, verschwand er dann aus meinem Blickfeld. Noch heute denke ich manchmal an ein Lied, das er für mich gespielt und gesungen hat:
Die Häuser vor den Augen werden höher, immer höher,
Die Gefühle zwischen Menschen hohler, immer hohler …
Könnte das von Luo Dayou [121] sein? Ich habe es vergessen.
***
LIAO YIWU:
Ist Queyue dein richtiger Name?
QUEYUE:
Klar.
LIAO YIWU:
Der Name im Personalausweis?
QUEYUE:
Ja, klar.
LIAO YIWU:
Ich hätte das für einen Künstlernamen gehalten.
QUEYUE:
Mein Nachname ist Qi, ich bin 1969 , am 11 . des 4 . Monats nach dem Mondkalender, geboren. In dem Jahr war der neunte Parteitag der Kommunistischen Partei einberufen worden, die »Statuten der Partei« wurden revidiert, der Staatsvorsitzende Liu Shaoqi wurde für immer aus der Partei ausgeschlossen und gleichzeitig der Stellvertretende Oberbefehlshaber Lin Biao zum Nachfolger des Vorsitzenden Mao bestimmt. Um ihre Begeisterung zu zeigen, gaben meine Eltern mir, dem Neugeborenen, so einen »mit der Zeit gehenden« Namen, der bedeuten sollte, »das ganze Volk jubelt und springt vor Freude« [122] .
LIAO YIWU:
Wie revolutionär! Waren deine Eltern Parteikader?
QUEYUE:
Meine Eltern waren beide blind, früher habe ich mich sehr minderwertig gefühlt, ich habe mich niemals getraut, jemandem von meiner Familie zu erzählen. Erst, als ich dreißig war, habe ich begonnen, anders darüber zu denken. Zur Zeit ist meine früheste Erinnerung, wie ich mit drei Jahren auf den Rücken meiner Mutter gebunden bin und sich meine Augen in einem fort mit einem Schiffchen drehen, das einen Meter weiter an einer Maschine ständig hin und her geht.
Das war in einer Fabrik der Sozialfürsorge, die Bänder aus Hühnerdarm produzierte. Alle um uns herum waren blind, taub, lahm oder stumm. Ein solches Band wurde für ein paar Fen verkauft, und so schufteten meine Eltern einen Monat für beide zusammen gerade mal siebenundzwanzig Yuan. Das reichte gerade eben für eine Familie mit fünf Mäulern.
Anfang der siebziger Jahre, nachdem das Flugzeug des Nachfolgers Lin Biao, mit dem er ins Ausland abhauen wollte, im mongolischen Wenduerhan in die Luft geflogen war, begann sich die politische Stimmungslage zu entspannen. Vor allem die einfachen Leute waren es leid, immer nur die acht Modellopern zu sehen, und so erholte sich der »feudale Aberglaube« im Verborgenen. In Gebirgsdörfern und im Umland kleinerer Städte gab es auch wieder einen Markt für die Gesangsaufführungen meiner Eltern.
LIAO YIWU:
Meine Mutter tat sich in den letzten Jahren der Kulturrevolution auch mit einer Schauspieltruppe zusammen, drei, vier Leute, sie hatten einfache Requisiten dabei und gaben auf den Dorf- und Marktplätzen der Vorortkreise von Chengdu ihre Vorstellungen. Wenn alles gut lief, konnten sie mit einer Aufführung zwanzig, dreißig Yuan verdienen. Wenn sie Pech hatten und auf Volksmiliz oder die Stadtverwaltung stießen, beschlagnahmten diese die »widerrechtlichen Einkünfte«, und wenn das nicht den Erwartungen entsprach, mussten sie zumachen und wurden öffentlich kritisiert.
QUEYUE:
Ich bin am Yangzi aufgewachsen, meine Familie kommt aus einem Ort im Kreis Yunyang bei Chongqing, er liegt an einem Fluss zu Füßen der Berge. Das Leben war dort schon so nicht sehr vergnüglich, und als sie dann Kulturrevolution machten, wurde es noch öder. Menschen sind aber keine Hunde, die, wenn sie nicht hungrig sind, in der Sonne herumliegen und damit zufrieden sind, einen Batzen Scheiße zu fressen, wenn sie Hunger haben. Deshalb, als das Ansehen der Partei und des Vorsitzenden Mao weniger wurde, konnte sich keiner mehr zurückhalten, alle wollten von »verbotenen Früchten« probieren.
Mein Vater war ein weithin bekannter Geschichtenerzähler und Sänger volkstümlicher Lieder. Er verwendete eine Daoqin-Trommel, das heißt, er schlug sie und erzählte und sang dazu. Dabei bewegte er sich im Rhythmus, was die Leute total faszinierte. Vor kurzem hat eine Bar aufgemacht und dafür war ein über achtzigjähriger blinder Künstler eingeladen, der ein Stück aus der Geschichte »Wu Song erschlägt den Tiger« [123] sang …
LIAO YIWU:
Das habe ich gesehen. Die Daoqin heißt auch Daotong, ein rundes Bambusrohr, länger als ein Meter, mit einem Durchmesser
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