Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
YIWU:
Und dann?
QUEYUE:
Dann ist Vater gestorben. Das war 1980 , ich war erst elf. Die Leute, die am Yangzi leben, schwimmen für ihr Leben gern. Vater war da keine Ausnahme, auch wenn er blind war.
Ich begleitete ihn dabei von klein auf und musste ihm vom Ufer aus die Richtung ansagen. Sah ich zum Beispiel eine Gegenströmung, brüllte ich »Gegenströmung«; kam es durch Wind zu Wellen, brüllte ich »Welle kommt«; schwamm er weit raus, brüllte ich »schnell zurück«. Und kam ein Schiff, trieb Holz oder eine Wasserleiche vorüber, musste ich ihn ebenfalls rechtzeitig aufmerksam machen.
Aber an jenem Tag war ich wahnsinnig müde, ich war den Fluss nicht mit hinuntergegangen, sondern am Ufer eingeschlafen. Ich schlief so fest, dass ich nicht einmal hörte, wie Vater um Hilfe schrie. Als er später aus dem Wasser gefischt wurde, war er schon ganz grün und blau, er sah schrecklich aus. Es stellte sich heraus, dass er plötzlich einen Krampf im Unterschenkel bekommen haben musste.
Ich war am Boden zerstört, und jemand neben mir meinte dann auch noch, dieser Junge ist völlig beschränkt, sein Papa schreit und schreit, und er wacht nicht auf. Ich erinnere mich, dass Mutter und meine beiden jüngeren Schwestern, es waren Zwillinge, sich über Vater warfen und weinten. Ich stand stocksteif danben, ohne eine Träne, vielleicht weil ich von klein auf schon zu viele Tränen vergossen hatte und meine Tränendrüsen inzwischen ausgetrocknet waren.
Als Vater tot war, brach unsere Welt zusammen. So sehr sich Mutter auch anstrengte, sie schaffte es nicht, drei Kinder zu ernähren. Also musste ich schon in der zweiten Klasse der höheren Schule aufhören und in der Behindertenfabrik, in der meine Eltern arbeiteten, die Nachfolge antreten. Ich war erst fünfzehn und schuftete zwischen Blinden und Tauben in der Vulkanisierung. Wir produzierten Gummischuhsohlen auf der Basis eines äußerst billigen und hochgiftigen Gummirecyclings.
Meine Aufgabe war, das Gummi vor dem Schmelzen zusammenzudrücken und in die Maschine hineinzuschieben, die die Schuhform presste. Das war wirklich die Hölle. Wann immer der stellvertretende Fabrikdirektor seinen Wagen verließ, trug er eine Gasmaske, die Arbeiter am Band in der Produktion aber trugen nicht einmal einen Mundschutz. Ich stand den ganzen Tag im Rauch, schon nach kurzer Zeit war meine Kehle hinüber, und in der Folge erkrankte ich an einer Bronchitis, die mich wahrscheinlich mein ganzes Leben begleiten wird. Wenn ich mit jemandem spreche, muss ich deshalb andauernd husten, als hätte ich einen Frosch im Hals.
LIAO YIWU:
Wie viel hast du verdient?
QUEYUE:
120 Yuan im Monat, das war nicht wenig. Aber alle Arbeiter hatten einen Arbeitsschutz abgelehnt, sie wollten lieber Bargeld statt Schutzhandschuhe und Mundschutz. Sie waren unglaublich arm, so arm, dass ihnen Geld wichtiger war als ihr Leben. Ich, ein Kind, fand das unerträglich und quittierte eigenmächtig den Job. Zusammen mit anderen verschwand ich als Sänger in die örtlichen Tanzlokale und verdiente von da an mein Geld mit Auftritten.
Zuerst sang ich Pop-Songs nach, etwas später kam ich dann mit Rockmusik in Kontakt. In dieser Zeit lernte ich Chen kennen. Er war damals fast dreißig, erst war er Soldat gewesen, dann hielt er die Einschränkungen nicht mehr aus und machte sich aus dem Staub. Danach heuerte er als Matrose auf einem Frachter an, und als ihm auch das zu viel wurde, gab er die Berufstätigkeit ganz auf und wurde zum Sozialschmarotzer. Er hatte zu Hause nichts als ein Bett und einen Globus. Aber voller Stolz deutete er immer auf seine Brust und sagte: »Alles da drinnen.«
Chen hatte das »Fenster zur Welt« abonniert, und als ich mir das durchgesehen hatte, wollte ich unbedingt eine Reise um die Welt machen. Chen ging oft zusammen mit anderen auf Diebestour, seine Entschuldigung dafür war, dass im Ausland die Künstler alle raufen und stehlen, zum Beispiel Bob Dylan, Lennon und so weiter. Außerdem würden sie Drogen nehmen. – Für mich war das alles absolut neu und aufregend, und ich wurde unzufrieden mit meinem unausgegorenen Leben. Immer mehr suchte ich nach einer Möglichkeit, mit anderen zusammen eine Band zu gründen und auf Tour zu gehen.
Seit meinem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr bin ich nun auf solchen Touren nach Guangzhou und Dongguan in der Provinz Guangdong gekommen; nach Xi’an und Baoji in Shaanxi; außerdem nach Lanzhou und in Xinjiang nach Urumqi, Tacheng und Karamai; in
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