Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
ausgeben. Er meint, dieses lebensgefährliche Blutgerinsel sei jetzt so lange in seinem Kopf, wenn man es auf einmal herausnehme, werde sich dann sein Schädel sicher wie leer anfühlen.
Was für ein Unsinn!
Siebzig Jahre alt und noch immer wie ein Kind.
Aber nachdem wir so manches Unwetter überstanden haben, finden wir uns jetzt ganz gut zurecht. Der kleine Hof draußen ist zwar gerademal eine Handfläche groß, aber wenn das Tor verschlossen ist, kann Guan Dong, auch wenn er schlafwandelt, nirgendwohin. In den letzten zwei Jahren ist er niemals mehr nach draußen gegangen, auch wenn die Haustür nicht verriegelt war, er steht höchstens in der zweiten Nachthälfte auf, rasiert sich und setzt sich ins Arbeitszimmer, um zu lesen. Einmal stand auch ich leise auf und schlich mich zur Tür, um ihm heimlich zuzusehen, da fragte er urplötzlich: »Li Ying, was tust du dort?«
Ich machte vor Schreck einen Riesensatz, er schlafwandelte überhaupt nicht.
Guan Dong ist geistig immer jung geblieben. In den achtziger Jahren strich der Schriftstellerverband eine bekannte Jugendzeitschrift, was für allgemeine Unzufriedenheit in kulturellen Kreisen sorgte. Als Guan Dong davon hörte, rannte er mit einem T-Shirt bekleidet sofort zur Behörde des Schriftstellerverbandes, setzte sich dorthin und heulte ohne jede Rücksichtnahme laut los, was eine große Menge Schaulustiger anlockte. Er ahmte damit den loyalen Beamten des Chu-Reiches Shen Baoxu nach, der beim Hof von Qin mit so einem Geheule um Unterstützung bat.
Dieser Elan hielt an, bis er in den Ruhestand versetzt wurde. Nicht lange vorher hatte er mitten in der Nacht in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift gelesen und mich außer sich vor Freude mit den Worten wachgerüttelt:
»In diesem kleinen Land in Südamerika gibt es ein ganzes Dorf von Schlafwandlern, die Leute dort arbeiten nachts und tagsüber schlafwandeln sie. Wenn man als Reisender mittags reingeht, sieht man in mattgelbem Sonnenlicht viele Menschen starr und steif in den Straßen und Gassen auftauchen und wieder verschwinden, sie machen nicht das leiseste Geräusch. Treffen zwei in einer engen Gasse aufeinander und sind kurz davor zusammenzustoßen, neigen sie sich auf wundersame Weise gleichzeitig zur Seite und beugen sich und biegen sich wie hin und her pendelnde Fische.
Überall lungern Hunde mit blutroten Augen herum und lecken mit langer Zunge manchmal über die Gesichter von Leuten, die kopfunter von den Bäumen hängen. Erst nach der Abenddämmerung wird das Dorf lebendig, die Hähne krähen, als würde der Tag beginnen, aus der Schmiede kommt das typische Dingdingdangdang, die Leute kommen aus den Häusern, strecken ihre müden Glieder und laufen von überall herbei, um auf den Markt zu gehen. Ab Mitternacht ist alles hell erleuchtet, eine Zirkustruppe kommt ins Dorf, und auf den Straßen ist es so voll, dass kein Wasser mehr durchpasst.«
LIAO YIWU:
Die Geschichte habe ich auch gelesen. Will Guan Dong denn auf Reisen gehen?
LI YING:
Er hält das nicht für eine Geschichte. Er sammelt jetzt überall Material darüber und sagt, in den ihm noch verbleibenden Jahren möchte er einmal dort hinfahren. Er sagt:
»Dort ist die Heimat des Schlafwandelns, wer nicht schlafwandelt, ist nicht normal. Ich vermute stark, dass Márquez dort war, wie sonst könnte sein Roman
Hundert Jahre Einsamkeit
klingen, als rede jemand im Traum? Er hat bestimmt im Halbschlaf geschrieben. Ich habe einmal versucht, im Traum etwas zu schreiben, das klappte nicht. Ich war mir sicher, einiges Staunenswerte aufgeschrieben zu haben, aber als ich Tags darauf nachsah, lag auf dem Schreibtisch nichts als ein weißes Blatt Papier.«
LIAO YIWU:
Es scheint, als sei das Schlafwandeln für Guan Dong Unglück und Glück zugleich, zumindest hat ihm das Schlafwandeln einen gewissen Abstand zur heutigen chaotischen Welt bewahrt, ein Gefühl, als sei er nicht von dieser Welt. Er ist einer jener wahren Menschen, die bestimmt ins Paradies eingehen.
LI YING:
Er lebt schon die ganze Zeit in einem Paradies.
Der Gelegenheitsarbeiter
Neben Peking und Guangzhou gilt Chengdu als die Stadt, in der sich die meisten Wanderarbeiter konzentrieren, der Arbeitsmarkt an der Neun-Augen-Brücke lief eine lange Zeit heiß, er zog sich unter der Brücke auf einer Länge von mehreren Bushaltestellen hin. Ich gab mich als Boss aus, der Arbeiter einstellen wollte, bewegte mich dort, handelte mit den Männern und Frauen Gehälter aus und versuchte auf
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