Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
aus der arbeitenden Bevölkerung für meine Ausbildung geschwitzt und geblutet – und ich? Ich war ideologisch verkommen, ich wollte nichts, als mir einen Namen machen, ich war ein Halunke und stank nur so nach Individualismus, Liberalismus, rechtslastigem Opportunismus und allen möglichen anderen Ismen.
Mir lief die Nase, mir liefen unaufhörlich Tränen über das Gesicht, ich hatte mich selbst noch niemals mit derart üblen Worten diffamiert und verflucht. Ganz ehrlich, ich hätte mir am liebsten ein paar hundert kräftige Ohrfeigen gegeben, nein, ich hätte es nicht für übertrieben gehalten, mir ein paar hundert Eimer Scheiße über den Kopf zu kippen. Mein Widerstandsgeist war vor dem Terror längst in die Knie gegangen, Himmel, die Partei, die mir mehr war als Vater und Mutter! Wenn sie mir nur verzieh, wenn sie mich nur nicht zur Umerziehung durch Arbeit schickte, ich war bereit, ihr den Arsch zu küssen! Wie die Literaten damals habe ich mich vorgedrängelt, wenn es darum ging, Hymnen auf ihre Fürze, ihre Scheiße, ihre Ärsche zu schreiben!
Und so fabrizierte ich in Tag- und Nachtarbeit und doppelt so schnell wie gewöhnlich eine dicke Selbstkritik, die ich der Orchesterführung mit beiden Händen überreichte, und hoffte sehnsüchtig, damit die Prüfung bestanden zu haben.
LIAO YIWU:
Mein Vater war Mittelschullehrer, während der Kampagne zur Ausmerzung der drei Oppositionen [63] in der Kulturrevolution beliefen sich die Straftatbestände, zu denen er sich bekannte, auf über hundert, selbst, dass er von Grundbesitzern abstammte und im Alter von zwei Jahren einmal von einem Landarbeiter auf dem Rücken getragen worden war, galt als Straftatbestand.
WANG XILIN:
Aber ich habe der Partei mein Herz übergeben. Auf der Vollversammlung der Kommunistischen Jugendliga, bei der über hundert Leute teilnahmen, las ich gut zweieinhalb Stunden meine Selbstkritik vor, unter Tränen, das war in dem riesigen Aufnahme- und Probenraum für das große Orchester, ein Raum von mehr als hundertzwanzig Quadratmetern und zwanzig Meter hoch, dort hätte man beinahe eine Rakete zusammenbauen können.
LIAO YIWU:
Das ist dann die größte Veranstaltung dieser Art in einem geschlossenen Raum gewesen, von der ich je gehört habe.
WANG XILIN:
Die Bühne nahm ein Drittel der Halle ein. Es gab Aufbauten für den Chor und Tribünen. Um die Qualität der Aufnahmen zu sichern, war der Boden mit einer dicken schallschluckenden Gummischicht überzogen. Ein solcher Ort war wegen seiner Akustik für musikalische wie politische Veranstaltungen bestens geeignet. Innerhalb eines halben Jahres wurde ich zehnmal vor der Vollversammlung bekämpft, jedes Mal saßen die führenden Leute rechts und links von der Tischtennisplatte, die in der Mitte stand, und schauten einander an. Und die wiederum waren umringt von den Massen, von denen der ein oder andere auch noch auf die Probenaufbauten stieg und von oben auf das Ganze herabsah, was mir das Gefühl gab, ich sei in den »weiten Ozean des Volkskampfes« geraten. Als ich mit der Verlesung meiner Selbstkritik ans Ende kam, war mir ganz schwindlig, meine Kehle brannte, in der Halle war es seltsam still, und ich dachte noch, die Leute seien bewegt. Aber plötzlich …
LIAO YIWU:
Fiel der Strom aus?
WANG XILIN:
Jemand fing an zu reden. Ich warf einen Blick in seine Richtung, es war ein Mann aus einem Basisgebiet im Norden von Shaanxi, er spielte chinesische Bambusflöte und war der Politsekretär des Orchesters, ein Mann namens Niu. Seine Stimme war scharf und brüchig wie der Klang seiner Flöte und ging einem durch Mark und Bein: »Das ist keine Selbstkritik! Das ist Heuchelei! Schlagt die Alarmglocken des Klassenkampfes! Genossen, bleibt fest auf eurem Standpunkt und schlagt die wahnsinnigen Angriffe des Rechtsabweichlers zurück, er darf uns nicht durch die Maschen gehen ….«
Sein Flötentenor war gerade erst verklungen, als Zhao Zhengwei den Ton angab: »Wang Xilins Vater hat seinen Abschluss an der Militärakademie von Huangpu gemacht, die Tschiang Kaishek geleitet hat, dann war er illegaler Kreisvorsteher, seine Schwester ist als Erste als Rechtsabweichlerin eingeschätzt worden, später sogar als Konterrevolutionärin, sie wurde in die Provinz Xinjiang geschickt, zur Umerziehung durch Arbeit, und er selbst hat sich unter Verheimlichung seiner konterrevolutionären Familie in die Armee eingeschlichen. Aber anstatt zu bereuen und sich zu ändern, machte sich in ihm auf übelste
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