Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
Ohren eine Detonation, es war ein richtiger Aufruhr. Das Gebrumm, das mich umgab, wurde immer lauter, es schien, als seien alle am Raten, »Wer ist als Nächster dran?« oder »Wird er auch mich verleumden?«. Als ich an die Stelle kam, an der es hieß, »eines Mittags stand ich mit XX im Korridor des Gebäudes und sprach über die Führung«, verlor jemand auf den Plätzen der Massen die Nerven und schrie: »War ich dabei?!«
    Ich antwortete: »Nein, du warst nicht dabei!«, und der Mann war auf einmal wie gelähmt.
    Ich las über drei Stunden, ich dachte daran, den Tonfall zu entspannen, doch die Stimmung kochte über, was der normalen feierlichen Stille bei solchen Veranstaltungen ganz zuwiderlief. Alle redeten lebhaft durcheinander, jeder wollte der Erste sein, nicht nur ich wurde beschimpft, verflucht und entlarvt, sie zerrissen, demaskierten und verleumdeten einander gegenseitig. Das Netz der gegen die Partei arbeitenden Vereinigung wurde immer weiter, am Ende umfasste es ein gutes Dutzend Leute. Wenn nicht ein paar führende Kader die Situation vor Ort in die Hand genommen hätten, dann hätte man sich sicher geprügelt. Ich war vor Schreck ganz starr, und bis das Ende der Versammlung verkündet wurde, drangen unablässig Beschimpfungen wie »falscher Heiliger«, »durch die Lappen gegangener Rechtsabweichler«, »hackt ihn in Stücke«.
    Gegenseitige Entlarvungen dieser Art griffen um sich wie der Flächenbrand des Krieges, es gab noch ein paar Versammlungen dieser Art, es war alles ein großer Brei, und das Wichtigste, was die Menschen zwischen den Versammlungen zu tun hatten, war das Sammeln von Material, um die Geschosse der anderen abzuwehren.
    Nach wechselndem Schlachtenglück in diesem Krieg wurde ich krank im Kopf, die Kampfkritikversammlungen zogen sich bis in meine Träume hinein, und die Massen zeigten die starren Mienen wie in revolutionären Filmen und in Dramen über die Guomindang, die Grundbesitzer und die Heimkehrerkorps [64] . Mein Vater, der seit vielen Jahren tot war, wurde zu einem schwarzen Schatten inmitten eines Meeres von Menschen. Ich stieß mitten in der Nacht eine Reihe von eigenartigen Schreien aus, ich schrie selbst während des Mittagsschlafs. Ich hatte ein Zimmer von zwölf Quadratmetern, doch ich zog den Vorhang zu, aus Angst, ein Sonnenstrahl könnte hereindringen. Denn draußen flatterte die rote Fahne, und ich hatte Angst, plötzlich verhaftet zu werden. Jeden Morgen, wenn aus den Lautsprechern die Mao-Hymne »Der Osten ist rot, die Sonne erwacht, China hat Mao Zedong hervorgebracht« kam, sprang ich wie von Furien gehetzt aus dem Bett und umklammerte zitternd meinen Kopf … Diese »Rot-Phobie« zerrüttete mich gut zwanzig Jahre lang und führte immer wieder dazu, dass ich bei öffentlichen Anlässen plötzlich die Kontrolle verlor. Bis heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich auf einer Mauer das große Bild eines Menschen sehe.
    LIAO YIWU:
    Haben Sie sich behandeln lassen?
    WANG XILIN:
    Im Frühjahr 1966 wurde ich in ein Sanatorium geschickt, das Attest über meine Geisteskrankheit habe ich aufgehoben. Der Fall meiner Schwester, der Rechtsabweichlerin, wurde zur Konterrevolution hochgestuft. Als sie in Handschellen in ein Umerziehungslager in die Provinz Xinjiang geschickt wurde, hatte sie das gleiche Krankheitsbild wie ich: Sie schrie im Traum, sie zitterte, ihr gingen großflächig die Haare aus. Dennoch ist das Geschrei von Genossinnen in ihrem Traumwahn ein anderes als das von Männern.
    LIAO YIWU:
    Nach einer solchen Tortur müssten Sie eigentlich an der Partei verzweifelt sein!
    WANG XILIN:
    Sie dürfen nicht vergessen, ich nahm an der Revolution teil, seit ich zwölf war! Ich war ein musikalisches Talent, das aus der Erziehung der Partei hervorgegangen war. Als der Höhepunkt der Erziehung zum Sozialismus vorüber war und der Orchesterleiter mich zum dritten Mal zu sich kommen ließ, brach ich vor Dankbarkeit in Tränen aus. Der Orchesterleiter Sagte:
    LIAO YIWU:
    Hieß das nicht klipp und klar, dass Sie sich ihr eigenes Grab schaufeln sollten?
    WANG XILIN:
    Als Beteiligter habe ich das nicht klar gesehen. Daraufhin habe ich geschrieben: »Seit der ersten Versammlung, auf der ich Selbstkritik üben musste, zitterte ich vor Angst, dass irgend jemand auf meinen Guomindang-Vater und meine rechtsabweichlerische und konterrevolutionäre Schwester zu sprechen kommen würde; seit der Kritik von der höheren Warte der Prinzipien und des Zwei-Linien-Kampfes nahmen meine

Weitere Kostenlose Bücher