Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
seltsamen konterrevolutionären Gedanken noch zu – jedes Kind von Guomindang-Mitgliedern, Grundbesitzern und Konterrevolutionären in sämtlichen Filmen und Dramen war ich! Ich konnte nicht schlafen, wenn es nebenan an der Tür klopfte, hatte ich Angst und dachte, die Polizei käme, um mich zu verhaften und ins Gefängnis zu stecken. Ich war der Sohn eines Hundes, ich war ein Schweinehund. Ich betrachtete die großen Bildnisse des Vorsitzenden Mao und des Vorsitzenden Liu als meine Väter, ich hatte schreckliche Angst. Ich hatte Angst, ich würde wie ein wildes Tier gegen die Partei ausbrechen!«
Sämtliche Anschuldigungen, die man sich auf Dutzenden von Kampfkritikversammlungen gegen mich hatte einfallen lassen, beschrieb ich als die »verborgensten Winkel meiner Seele«, insgesamt beschrieb ich über hundert solcher »Ängste«. Unter Tränen gestand ich: »Ich habe Angst, jemanden zu sehen, ich habe Angst vor der Farbe Rot, ich habe Angst, ›Der Osten ist rot‹ zu hören, ich habe Angst, ein Bild des Großen Vorsitzenden zu sehen!«
Nach ein paar Tagen verlas ich auf Anordnung der Partei diese »verborgensten Winkel meiner Seele« vor den Massen. Im großen Saal war es ganz still, als wären die Kampfhandlungen plötzlich eingestellt worden. Als ich fertig war, wurde die Versammlung aufgelöst. In den folgenden beiden Monaten regte sich ebenfalls nichts, es war, als habe man mich vergessen.
LIAO YIWU:
Dieses Hin und Her des gegenseitigen Bekämpfens macht die Leute auch müde.
WANG XILIN:
Das weiß ich nicht, ich war jedenfalls freigesetzt worden. Es war zum Frühlingsfest 64 , als ich auf einmal wieder anfing zu komponieren und die Orchestrierung des letzten Satzes der symphonischen Dichtung »Yunnan«, die ich zu einem Großteil schon vor Neujahr vollendet hatte, unter dem Titel »Das Fackelfest« zu schreiben.
LIAO YIWU:
Ich habe diese Komposition vor kurzem gehört, das ist nun wirklich eine jubelnde Volksode.
WANG XILIN:
Über zwanzig Jahre später wurde sie mit dem ersten Preis der ersten chinesischen Symphoniekritik ausgezeichnet und als Botschafterin unseres Landes in über dreißig Städten weltweit mehrere hundert Mal aufgeführt.
LIAO YIWU:
Ausgerechnet unter diesem extremen Druck waren Sie in der Lage, ein derart unbändiges symphonisches Gedicht zu schreiben?
WANG XILIN:
Wenn ich das nicht gekonnt hätte, könnten Sie mich heute nur noch in der Nervenheilanstalt besuchen, ich habe über ein halbes Jahr sehr intensiv daran gearbeitet. Eines Tages, Anfang Mai 1964 , verkündete Sekretär X des Komitees der Jugendliga auf einer großen Versammlung, als Disziplinarmaßnahme habe man entschieden, mich »aus der Liga auszuschließen«. In den darauffolgenden Tagen ließ der Orchesterleiter mir mitteilen, ich würde in den Provinzbezirk Yanbei der Provinz Shanxi verschickt, eine Arbeit würde mir zu gegebener Zeit zugeteilt. Die anderen »Cliquenmitglieder« wurden ebenfalls aufs Land verschickt, einer nach Tianshui in Gansu, einer nach Xinchang in Zhejiang und so fort.
LIAO YIWU:
Diese Art der Behandlung galt wohl auch als »konservative Therapie«.
WANG XILIN:
Ich war aber nicht verzweifelt, auch wenn ich als ehemaliger Liebling der Götter tief gefallen war. Denn der Orchesterleiter ermutigte mich, »mich nur tüchtig zu ändern«, dann hätte auch ich eine Zukunft. Ich packte meine Sachen, bestieg den Zug, und verhielt mich noch immer wie ein Soldat, lernte von Lei Feng [65] und wetteiferte darum, für die Zugangestellten den Boden zu fegen. Als ich die Arbeitsgruppe Kultur von Yanbei erreichte, begann ich als Laufbursche, schleppte Requisiten, be- und entlud und fegte die Bühne. In dem Drama »Erste Kämpfe am Pingxing-Pass« spielte ich die Massen, schrie Parolen und schwenkte Wimpel und dergleichen. Wenn wir auf Abstecher in die Dörfer fuhren, baute ich die Bühne auf, fegte den Hof, putzte die Toiletten, zog Leiterwagen und machte Wasser heiß für das Füßewaschen. Ich wollte mein stinkendes Intellektuellenweltbild von Grund auf ändern. Später dann habe ich meine Möglichkeiten, die weit über denen der Leute dort lagen, genutzt und die Umgestaltung der Natur, gute Menschen und gute Taten besungen und den »Großen Chor des Palisadendorfs« geschrieben, der für einiges Aufsehen gesorgt hat. Der revolutionäre Autor Ma Feng hatte »Eine Fahne vor dem Yanmen-Pass« geschrieben und diese Fahne wehte über einem Palisadendorf. Ich habe eine ganze Reihe von Sätzen gemacht –
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