Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
es eine genaue Schilderung von mir und Wen Xin in diesen Jahren ist. Viele Menschen hatten eine Weile Mitleid mit mir und regten sich über mein Schicksal auf, ich stellte mich unbewusst vor die Wahl zwischen Organisation, Kollektiv und meiner eigenen Persönlichkeit, und ich wählte meine eigene Persönlichkeit, ich musste ein Privatleben haben, nicht wahr, mein Junge? Doch vor der Ära Deng Xiaoping hatten Chinesen kein Privatleben, zumindest konnte man so etwas wie Privatleben nicht nach außen zeigen. Wir haben es Deng Xiaoping zu verdanken, dass wir aus diesem Schatten, wo wir nicht Mensch und nicht Gespenst waren, heraustreten konnten.
LIAO YIWU:
Haben Sie Ihre Entscheidung bereut?
FENG ZHONGCI:
Nein. Anfangs war ich es nicht gewohnt, dass mich jeder kritisieren konnte, denn schließlich war vorher ich es gewesen, der andere kritisierte. Ich habe mich daran gewöhnt. Als wir dann Kinder hatten, habe ich mich noch mehr daran gewöhnt. Die Armen machen Revolution, weil sie etwas zu essen haben wollen, etwas anzuziehen, eine Frau und Kinder, ich war kein Revolutionär mehr und hatte trotzdem Frau und Kinder. Ich konnte schließlich nicht das Volk und die Organisation heiraten. In den Filmen heißt es immer so schön, »der und der ist vom Volk großgezogen worden«, aber hat dieses Volk einen Namen? Wie sehen die Brüste dieses Volkes aus!? Ich habe dergleichen nie gesehen. Je größer eine Wahrheit, umso weniger wahr!
Wenn ich gegen mein Gewissen Wen Xin in die Hölle gestoßen hätte, hätte ich das ein Leben lang bereut. Selbst wenn ich Minister geworden wäre, hätte mich das nicht beruhigt.
LIAO YIWU:
Wie haben Sie es geschafft, dass Wen Xin ihre Haltung änderte?
FENG ZHONGCI:
Ich wurde zum Rechtsabweichler, fand meine Ruhe wieder und schrieb ihr einen Brief, in der ich ihr meine Liebe erklärte. Damals wurden Rechtsabweichler streng überwacht, aber das hatte auch sein Gutes, sonst hätte Wen Xin sich das Leben genommen. Niemand stellte den Brief zu, so stahl ich mich mitten in der Nacht von der Arbeit weg und lief zum Haus ihrer zweiten Mutter, wo ich den Brief in einen Türspalt warf und dann wieder zurückeilte. Auf diese Weise brachte ich ihr fünf, sechs lange Briefe, ohne zu wissen, ob sie jemals ankommen würden. Später wurde sie nach Akesu in Xinjiang verbannt, also würde ich einen Platz vor Ort finden. Das ging aber nicht. Ich setzte Himmel und Hölle in Bewegung, hatte nach einem Jahr Erfolg und fand einen Platz. Es war ein richtiges Vagabunden-Leben, mit dem Auto, mit dem Zug, ich war längst zu einem geld- und namenlosen Bettler geworden. Bis zu dem glücklichen Tag, die Sonne schien warm, als ich sie dort in diesem Baumwollfeld stehen sah, die Haut tiefrot verbrannt, aber es sah aus, als habe die Umerziehung durch Arbeit ihr Gutes gehabt und ihre Gesundheit gestärkt. Ich wurde als flüchtiger Verbrecher festgenommen, denn im Nordwesten der Umerziehungsfarm lag die Taklamakan, durch die es nur eine Straße gab, und die führte zu einem Gefängnis im Herzen der Wüste. Es war schon vorgekommen, dass Häftlinge auf Lkws mit Moschuskürbissen entkamen und sich fünf Tage und Nächte mit dem Verzehr von Kürbissen am Leben hielten. Als ich Wen Xins Namen aussprach, wurde sie zu ihrer Unterkunft gerufen. Erst nach einem halben Tag erkannte sie in diesem zerzauselten Kerl »ihren Zhongci«.
Die Geschichte ging dann recht gewöhnlich weiter. Wir waren beide Rechtsabweichler, also gleichberechtigt. Da ich so weit gefahren war, um sie zu finden, konnte sie nicht anders als mich zu heiraten – auch wenn sie damit nicht besonders zufrieden war. Diesmal zögerte die Organisation keinen Augenblick, stellte ihr eine Bescheinigung aus, genehmigte einen Urlaub, und wir fuhren zurück nach Sichuan, wo wir die Heiratsformalitäten erledigten. Wir brauchten noch eine Umzugsgenehmigung, und auf diese Weise kam ein »schwarzes« Ehepaar dem Aufruf der Partei nach und unterstützte mit großer Begeisterung die Grenzgebiete.
Als Deng Xiaoping die Bühne betrat, wurden die Rechtsabweichler rehabilitiert, und wir führten unsere beiden im Grenzgebiet geborenen Kinder zurück nach Sichuan. Auch wenn man nicht sagen konnte, dass wir in Glanz und Gloria zurückkamen, so konnte man doch sagen, wir hatten Freude und Leid miteinander geteilt. Dieses Leben war nun einmal so, ich bin sehr zufrieden damit.
LIAO YIWU:
Großvater Feng, ich danke Euch für dieses Gespräch, ich danke Euch für alles, was Ihr für
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