Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Immerhin war sie schon seit vier Jahren auf der Schule und warb schon sehr viel länger um ihn als ich. Ungefragt war ich in ihr Terrain eingedrungen – ihre Hassgefühle mir gegenüber ließ sie mich bald spüren. Ich versuchte sie zu verstehen und bemühte mich, nett zu ihr zu sein, doch sie verachtete meine Nettigkeiten.
Ich überlegte, wie ich ihm bloß mitteilen konnte, dass ich in seiner Nähe sein wollte. Ich wusste einfach nicht, wie man so was sagte. Er sah mich eines Samstagnachmittages immer wieder sekundenlang an, als genieße er diesen Anblick, und strich mir die mittlerweile lang gewordenen Fransen hinter die Ohren. Voller Glücksgefühle kehrte ich an jenem Abend in den Dorm zurück, begrüßte die Mädchen, die draußen saßen und kreischten, und begegnete auf der engen Treppe den tödlichen Blicken Ingrids. Sofort fühlte ich mich schlecht – und zu Mike noch mehr hingezogen.
Dann endlich: In einer der lauen Spätsommernächte, in denen die Sternschnuppen am Nachthimmel herabfielen wie Feuerwerk, gaben wir uns den ersten Kuss. Wir saßen auf einer Bank am Footballfeld. Doch kaum hatten wir die ersten Zärtlichkeiten ausgetauscht, trat der Nachtwächter mit einer Taschenlampe aus dem Nichts zu uns und wies darauf hin, dass diese Bank nach 22 Uhr außerhalb des zugelassenen Campusbereichs lag. Wir mussten uns in die Zone begeben, die hell erleuchtet nahe der Schulgebäude lag. Arm in Arm schlenderten wir über das Frisbeefeld zum Long Walk zurück. Wie gut sich das anfühlte! Ich liebte seine feste Umarmung! Beim Abschied hob er mich hoch, als sei ich federleicht, und meinte, ich sei die schönste Frau, die er jemals geküsst habe.
Mit heißen Lippen verabschiedeten wir uns vor meinem Dorm, und ich fühlte mich überglücklich.
Mike und ich wurden ein Paar. Das Gefühl von Liebe gab mir unendlich viel Kraft.
Hutch schrieb mir sogar ein Gedicht und überreichte mir den Zettel, auf dem er seine Verse niedergeschrieben hatte, mit feuchten, zitternden Händen. Nach seinen Footballspielen saßen wir auf den Treppenstufen zu seinem Dorm, und ich schmierte ihm die geschwollenen Finger mit Kühlsalbe ein und zeigte ihm meine blauen Flecken von den Bällen, die ich beim Hockey abbekommen hatte. Er brachte mir ein Käppi von Abercrombie&Fitch und Pralinen von einem Ausflug nach Manchester mit. Es war schön, zu ihm zu gehören, damit hatte ich sehr schnell sehr viele Freunde gewonnen. Außer Ingrid natürlich, die hasste mich.
Das Leben als Paar auf einer amerikanischen Internatsschule war allerdings sehr kompliziert. Schließlich gab es Vorschriften. Eine der vielen Regeln lautete: »Keine Mädchen nach 22 Uhr auf den Zimmern.« Eine andere: »Mindestens zwei Extremitäten beider Personen auf dem Boden« – was es unmöglich machte, gemeinsam im Bett zu liegen. »Wenn sich ein Junge/Mädchen im Zimmer eines Jungen/Mädchens befindet, hat die Zimmertür desjenigen offen zu stehen, wie auch die Tür des Dorm-Aufsehers offen zu sein hat.« Jeder Besuch von Mike in meinem Dorm musste angemeldet werden. Auf dem Campus gab es kaum einen Winkel, der nicht bewohnt oder beobachtet wurde, und die freie Zeit war, wie gesagt, sehr knapp.
Das einzige romantische Abenteuer, das ich wagte, war, ein paar Tage nach unserem ersten Kuss unangemeldet zu Mikes Dorm zu schleichen. An jenem Abend vermisste ich ihn sehr. Ich wollte mit ihm sprechen, ihn wieder und wieder küssen. Nach den Hausaufgaben in der Bibliothek, um zehn Uhr, huschte ich also über den schmalen Weg zu seinem Dorm hinunter. Ich kannte die Konsequenzen und wusste auch von dem Husky, den sich der Aufseher von Mikes Dorm hielt. Der Hund lebte vor dem Haus an einer langen Kette und bellte.
Da ich ja unangemeldet gekommen war, versuchte ich mich als Erstes mit dem Husky anzufreunden. Er war begeistert von meiner Zuwendung und hätte mir am liebsten das Gesicht abgeleckt. Sein Laufradius war mit fünf Metern beschränkt, und so tastete ich mich in der Dunkelheit an der Hauswand entlang, bis ich glaubte, Mikes Fenster erreicht zu haben. Ich schmiss Kiesel an seine Fensterscheibe und rief so laut, wie ich es wagte, seinen Namen. Nichts. Der Husky hing hechelnd in seiner Kette an der Hausecke. Noch immer nichts. Ist ja auch Schwachsinn, hier auf ihn zu warten, geh doch einfach rein, sagte ich mir. Ich ging zurück zur Haustür und tat so, als wisse ich nichts von den Regeln. Ich schlich über den Flur und ging die enge Treppe hoch. Ich wusste noch nicht
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