Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
getrockneten Erdbeeren. Da kommt Ingrid auf mich zu, und ich sage nur verzweifelt: »Ich wollte nichts Böses tun!« Doch Ingrid lacht, nimmt einen Stift und unterzeichnet ein Papier. »Neunundneunzig Jahre unter dieser Erde, du wirst den Tag nie vergessen, an dem du Mike sitzengelassen hast«, sagt sie – und da wachte ich auf.
Es war stockdunkel. Ich sah auf meine Uhr: drei Uhr morgens. Hunger hatte ich, unglaublichen Hunger, aber ich mochte das Gefühl, es lenkte mich ab von den Gedanken an die Trennung mit Mike. Ich konnte nicht mehr einschlafen und las mit Taschenlampe ein Buch. Irgendwann um fünf Uhr nickte ich noch mal ein. Um sieben ging ich mit meinem Müsli, das mir meine Mutter per Post geschickt hatte, und der Schultasche zum Frühstück. Ich war früh genug dran, um im Esssaal noch schnell meine Biologieaufgaben zu machen.
Die Sohlen meiner Schuhe auf dem Asphalt hallten durch Saxtons River. Kein einziges Blatt rauschte mehr, alle Bäume waren mittlerweile kahl. Nur die dicken, schwarzen Kabel der Überlandleitungen wiegten sich leicht hin und her. Ich fror, obwohl ich Wolle in drei Schichten trug. Ich nahm mir Kaffee mit Haselnussgeschmack. Mrs. Dolloph grüßte mich freundlich, und plötzlich hatte ich ein Déjà-vu. Sie meinte, ich sehe aus, als sei es sehr kalt draußen. Ich nickte zögerlich und ging dann zu einem der Tische, wo ich mich alleine hinsetzte. Ich überflog schnell ein paar Seiten in dem Biologiebuch und dachte mir Antworten zu den Fragen aus.
»Darf ich mich zu dir setzen?«
Ich erkannte Jesses Stimme und sah auf. »Natürlich!«, sagte ich. Er hatte die neue Ausgabe der Vogue dabei und zeigte mir seine Lieblingsstücke. Wir unterhielten uns oft über Mode, weil ich mich durchaus auch dafür interessierte und Jesse anscheinend meinen Style mochte.
Später sah ich Mike vor dem Mathematikraum, aber ich empfand nichts mehr für ihn. Ich wusste gar nicht mehr, ob ich jemals verliebt gewesen war, und fühlte mich schuldig, mich überhaupt auf ein solches Spiel eingelassen zu haben. Noch an diesem Abend rief ich Mike in seinem Dorm an und erklärte ihm am Telefon, dass ich in unserem Zusammensein keine Zukunft sah und Schluss machen wolle. Ich musste diesen Satz dreimal in unterschiedlichen Formulierungen wiederholen, bis er meine Botschaft verstand und auflegte. Der Moment war schrecklich, denn ich wusste, dass ich damit sehr schnell sehr viele Freunde verloren hatte.
Von nun an betrieb Ingrid mit akribischer Gründlichkeit meinen Rufmord unter der weiblichen Schülerschaft. Ingrid war ein alter Hase, und somit hatte sie großen Einfluss auch auf die älteren Schüler. Es war ihre Art, sich an mir zu rächen. Wenn ich mich in der Cafeteria an einen Tisch setzte, verstummten die Anwesenden. Sie glotzten mich mit einer merkwürdigen, stummen Fremdheit an. Ihre Unterhaltung setzten sie nicht eher fort, bis ich den Tisch wieder verließ. Im Dorm war ich für Ingrid wie Luft. Nur von ferne sah ich sie lachend mit Chris, Topher und Mike zusammenstehen.
Es gab einen einzigen Ort, an den ich mich zurückziehen konnte. Von Samstagnachmittag bis Sonntagabend flüchtete ich auf die Farm meines Vaters. Nur hier konnte ich alleine sein, für mich kochen, was mir schmeckte, konnte vor dem Kamin lesen, in mein Notizbuch schreiben, schlafen und mich meinen Gedanken hingeben. Auf der Farm gab es damals nur Jim. An einem solchen Sonntagnachmittag, als der Wald so kahl und stumm war wie jetzt, schlug ich mit einem Stock auf die Stämme der Ahornbäume ein, schleuderte Steine ins Nichts und wütete mit den Füßen im Laub. Doch der Wald schlief, und auch das von mir verursachte Geschrei konnte ihn nicht wecken. Hörte mich denn keiner! Einsam und verlassen fühlte ich mich. Da war niemand, der mir gut zuredete: Bleib tapfer, halt durch. Und Jesse oder Drew gegenüber traute ich mich nicht, mich zu offenbaren, aus Angst, eine Schwäche preiszugeben. Alleine hatte ich sein wollen, hier war ich alleine.
8
Ic h veränderte mich. Nicht nur verlor ich auf der Vermont Academy an Gewicht, ich entdeckte Gesten und Stimmlagen an mir, die ich von meiner Mutter nur zu gut kannte. Zum Beispiel fiel mir auf, dass ich beim Bestellen in einem Restaurant mit den Fingern über mein Schlüsselbein strich und mit meiner Halskette spielte; das war eine typische Eigenschaft meiner Mutter. Ich zog ganz leicht an meinen Haarsträhnen, so wie es meine Mutter manchmal tat. Wenn ich mich mit der Dame vom Postschalter
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