Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
unterhielt, nahm ich gewisse Gesichtszüge an, gestikulierte genauso, wie ich es von meiner Mutter kannte. Ich fand in meinen Gedanken eine Sehnsucht nach Kultur, nach Tradition – Bedürfnisse, die mich an die Haltung und Wertschätzungen meiner Mutter erinnerten. Dies zu realisieren, fand ich etwas unheimlich.
Gleichzeitig dachte ich immer öfter zurück an die Sommer im Engadin, an unsere Reisen mit dreizehn Gepäckstücken für sechs Kinder und meine Eltern, selbst an den vom Kochen und Spülen wunden und nicht heilen wollenden Daumen meiner Mutter erinnerte ich mich! Ich dachte an unsere Sommerferien im Camper, ja selbst daran, dass zu Hause immer die Bücher auf dem Posttisch gelegen hatten – und ich merkte, wie viel mir all dies bedeutete. Erst durch mein Heimweh wurde mir bewusst, aus was für einer Welt ich kam.
Auch meine Mutter bemerkte damals eine Veränderung an mir. Meine Eltern sahen mich zum ersten Mal Ende Oktober wieder, als sie für ein »Eltern-Wochenende« die Schule besuchten, sich ein Hockeyspiel anschauten, das wir verloren, und in Besprechungen saßen, in denen die Lehrer über die Fortschritte der Schüler informierten. Kein Lehrer hatte bemerkt, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich einzuleben. Meine Mutter bemerkte hauptsächlich, dass ich abgenommen hatte, und diese Entwicklung machte ihr Sorgen. Sie fragte, wie es mir ginge und ob ich gut esse. Da ich aber alles daransetzte, jemand anders zu werden, ging ich jeder Frage dazu aus dem Weg und ließ nicht in mich hineinblicken.
Ich war jetzt ich. Diese Kontrollausübung über die Entwicklung meiner Persönlichkeit und mein Ehrgeiz, gut zu werden, das war mein Weg.
Meine Eltern reisten nach einer Woche, die sie auf Birch Hill verbrachten, wieder ab, und ich fiel zurück in dieselben Muster, fand mich mit meiner Situation ab und machte weiter wie bisher.
Manchmal ist die Selbstzerstörung der letzte Versuch, gehört zu werden. Ich habe nie bewusst beschlossen, nicht mehr zu essen. Die Sucht nach dem Hunger kam schleichend, auf Zehenspitzen, aber unaufhaltsam. Erst war da nur das Verlangen nach all den guten Dingen, die meine Mutter kochte. Ich sehnte mich nach dem selbstgebackenen Rhabarberkuchen mit dem Vanillecremegitter – ich konnte ihn nachschmecken, ihn vor meinem inneren Auge sehen. Ich sehnte mich nach dem Geschmack richtiger Pasta oder eines Lammbratens mit Kartoffelbrei. Gleichzeitig verweigerte ich immer mehr Speisen wie Eis, überhaupt Süßes, das Brot rührte ich nicht an, mich ekelte der Joghurt, der Fäden zog, wenn man ihn aus dem Becher löffelte, und wenn es Nudeln mit Käsesauce gab, aß ich Salat. Ich brachte dieses Fett nicht runter, machte aber gleichzeitig auch so viel Sport, dass ich nie satt wurde und immer hungrig zu Bett ging. Ich gewöhnte mich ans Hungrigsein und fing bald an, darauf richtiggehend Wert zu legen. Ohne jemals vorher Probleme mit meiner Figur gehabt zu haben, glaubte ich plötzlich dicker zu werden, obwohl ich ja nichts aß, und so drehte ich mich im Kreis. Gleichzeitig war da dieser undefinierbare Schmerz in mir. Durch die strenge Kontrolle der Nahrungsaufnahme wurde dieser Schmerz greifbar. Endlich konnte ich meinen Körper zwingen zu leiden. Nachdem man in all diesen Jahren nett zu mir gewesen war, mir versucht hatte zu helfen, mir das Leben, die Schule leichter zu machen, ohne mich so zu akzeptieren, wie ich war, hatte ich endlich die Macht. Ich konnte sie frei ausüben, und ich war nicht nett zu mir. Ich begann mich für meine Schwächen zu hassen. Mein Versagen, mein Heimweh, meine innerliche Zerrissenheit, eine gute Tochter sein zu wollen und dabei trotzdem meinen eigenen Weg zu gehen, der Drang nach Anerkennung und den Worten: »Das machst du gut, Louise«, stand über allem – über allem, was mein Körper wert war.
Magersucht hat auch Züge von Schizophrenie, da man von einem zweiten bösartigen Ich heimgesucht wird, das sich wie ein Tumor ins Gehirn einpflanzt und das gute, ehrliche, mangelhafte Ich nach und nach verzehrt. Das Denken, die Sprache, die Gefühle, ja, das ganze Sein wird bald beherrscht von dieser zweiten, kranken Persönlichkeit. Was einen einst ausgemacht hat, verschwindet, und etwas völlig Fremdes nistet sich im eigenen Körper ein.
Ich war doch ein glückliches Kind, ein rotzfrecher Pfadfinder gewesen? Wo war es hin, das Kind in mir? Ich glaubte es verloren zu haben. Nie mehr würde ich Spaghetti mit den Händen essen können, Schlangenbrot mit den
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