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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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unglaublich.«
    Jim nickt.
    In meinen Gefühlen schwingt Trauer mit. Dieses Ding in meiner Hand bedeutet, die volle Kontrolle über das Leben zu haben. Mit einem Schuss kann ich es beenden. Ich habe meine Lust daran, die volle Kontrolle zu besitzen, anders ausgelebt, habe diese Waffe gegen mich selbst gerichtet und mir damit gedroht. Nun halte ich diese andere Waffe in meiner Hand. Es ist ein Objekt schier unvereinbarer Gegensätze, es richtet unermesslich großen Schaden in kürzester Zeit und mit kaum spürbarer Leichtigkeit an.
    Mit dem Messer ist man unmittelbar am Töten beteiligt, und es bedarf eines weitaus größeren Kraftaufwandes. Die Pistole aber ist nur ein verlängerter Arm des menschlichen Willens. Sie beendet Leben, das ist ihre Aufgabe. Es ist so banal und doch so gewaltig, dass allein diese Spannbreite begierig macht. Ich wiege die Waffe in meiner Hand. Ich bin der Anfang, sie ist das Ende. Ich bin gefesselt und spüre die Anziehung, die Kraft, die Gewalt, die Grausamkeit, die sich in mir regt. Gefühle, die ich in der Kombination noch nicht verspürt habe. Ich denke an Kinder und wie ein einziger Schuss ein ganzes noch bevorstehendes Leben beenden kann – innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde. Allerdings kann man die Waffe auch einsetzen, um zu überleben. Würde sich eines unserer Pferde auf dem Trail das Bein brechen, könnte ich es an Ort und Stelle erschießen? Ob ich einem Lamm, das vom Kojoten angefallen und halb tot im Zaun hinge, so eine fingerdicke Kugel in den Kopf jagen könnte?
    Wenn es drauf ankäme, könnte ich es, das weiß ich, und das ist ein fürchterlicher Gedanke.
    »Wofür benutzt du die Waffe?«, frage ich Jim und fahre mit meinen Fingern über den Lauf.
    »Ich schieße Waschbären, wenn sie tollwütig sind, Murmeltiere und Füchse. Was so ansteht, wenn man was schießen muss.«
    Ich verlange sechs weitere Kugeln. Das Gefühl, die Macht zu besitzen, ist beängstigend und verführerisch zugleich. Es kostet mich viel Willenskraft, mein Inneres unter Kontrolle zu halten. Ich könnte jetzt töten, denke ich mir, und mich überkommt Gänsehaut.
    Ich schließe das Kugellager, als stünde ich im Duell. Ich ziele erneut auf die Teller. Ich verfeuere die Kugeln und genieße sogar, gegen den Rückschlag zu halten. Dann gebe ich Jim die Waffe zurück, ich bin froh, dass ich sie nicht mit nach Hause nehmen muss.

10
    Na chdem ich beschlossen hatte, meine Gefühle einfach abzuschalten und das Gedankenwälzen so gut es ging zu lassen, stürzte ich mich in die Arbeit. Und siehe da: Ich wurde eine gute Schülerin. Da in den amerikanischen Algebrabüchern mit Fotos und Zeichnungen, mit Vergleichen aus der Natur und für mich nachvollziehbaren Realitätsbezügen gearbeitet wurde, schrieb ich eines Tages in meiner Klasse eine der besten Mathematikklausuren! Es war auch eine große Hilfe für mich, dass es hier selbstverständlich war, den Taschenrechner zu benutzen. In Geschichte passierte das Undenkbare: Ich bekam vor versammelter Klasse ein Lob. Ich weiß gar nicht mehr, wofür ich das Lob bekam, ich kann nur das peinliche Schweigen der anderen Schüler erinnern. Es dauerte keine zwei Sekunden, da wollte ich vor Scham im Boden versinken. ›Sag so was nie wieder‹, fauchte ich Mr. Hibbler im Stillen an.
    Meine Biologiearbeiten gab ich mit aufwendigen Farbstiftzeichnungen ab, die meine Lehrerin minutenlang schweigend betrachtete. Ich kämpfte mich im Sport ab, rannte vor und nach dem Training, rannte am Wochenende, rannte in der Nacht, wenn ich träumte.
    Ich war süchtig nach Anerkennung, doch wenn ich die Anerkennung bekam, bedeutete sie mir nichts. Ich wollte kein Streber sein, und ich wollte nicht auffallen. Das Gefühl, nicht mehr sichtbar sein zu wollen, stellte sich nach der Trennung von Mike ein. Keine drei Monate waren seit meiner Ankunft vergangen, aber die in dieser Zeit liegenden Ereignisse hätten locker ein ganzes Jahr gefüllt. Ich lebte also wie im Zeitraffer und blendete meine Umgebung aus. Vielleicht wusste ich da schon, dass ich irgendwie nicht an diesen Ort passte, doch ich hätte das niemals zugegeben, denn damit hätte ich mir die Energie für meine Rebellion genommen. Meine Flucht aus der Schweiz musste gelingen – ich wollte nicht zurück! Ich beschloss also, über die Umstände und auch über mich selbst hinwegzusehen. Ich ignorierte mein Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit, mein Bedürfnis nach Freiheit und mein Bedürfnis nach Essen. Dieser Beschluss

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