Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Zähnen vom verkohlten Stecken ziehen können. Nie wieder konnte ich mich mit den Jungs auf dem Schulhof schlagen, nie mehr würde ich unbeschwert stundenlang an der Seite des Bergführers durch Fichtenwälder, entlang rauschender Bergbäche und auf dem schmalen Trampelpfad einer Gletschermoräne zum Maiensäß wandern können. Ich fühlte mich erwachsen. Und Erwachsensein bedeutete für mich Schluss mit den Träumereien vom Cowboyleben, der Freiheit. Erwachsenwerden bedeutete, hier und heute Abschied vom Träumen zu nehmen und die Entscheidung zu treffen: Kämpfen bis zum Umfallen.
9
Da s Areal der Hartland Shooting Range ist verschlossen. Der Schlagbaum liegt unten und ist mit einer alten Eisenkette und einem Vorhängeschloss versehen. Jim lässt den Motor des Ford Trucks laufen, hebt den Ganghebel in P und steigt aus dem Wagen. Ich kurble die Scheibe runter und höre seine schweren Schritte auf der feuchten Erde. Die Temperatur ist seit heute Morgen um 15 Grad angestiegen. Die milde Nachmittagssonne scheint auf die fallenden und gefallenen Blätter, die Bäume brennen in Blutrot, Kurkumagelb und Rostorange. Jim wickelt die Eisenkette locker um den Pfosten, hebt den Schlagbaum in die Senkrechte hoch und kommt wieder auf den Truck zu. Sein Bart verdeckt die Kerbe, die sein Kinn markant zeichnet. Er trägt ein kariertes Hemd und eine vom vielen Waschen ergraute, bläuliche Schirmmütze mit ausgefransten Kanten. Auf der Stirn sind die Buchstaben VT für Vermont aufgestickt. Er zieht sich am Lenkrad auf die Sitzbank, schaltet in D und lenkt den grünen Truck auf die Wiese vor uns. Da stehen fünf Holzpfosten mit Blechtellern versehen. Auf einer Bretterwand sind weitere Teller und Blechdosen angebracht, die schwarz sind vom Rost und völlig durchlöchert. Eine Bretterbude aus Holz steht da mit einem Schild Hartland Shooting Range – Members Only sowie ein verrotteter Truck in Rot mit nur drei Rädern und einer eingeschlagenen Windschutzscheibe.
Jim zieht den Zündschlüssel, und wir steigen aus.
Aus dem Wald, der hinter dem Rasenfleck beginnt, dringt Düsternis.
Ich höre die Autos auf der Route 12 vorbeirauschen, die am Fuß des Berges durch das Connecticut Valley läuft.
Jim hat eine Smith & Wesson Magnum dabei, die er sich mit vierzehn für die Jagd gekauft hat.
Er legt mir die Waffe in die Hand. Das silberne Ding hat ein angenehmes Gewicht. Es ist schön schwer, kühl, ein Handschmeichler. Ich drehe die Waffe in meinen Händen, sie ist noch nicht geladen, und somit betrachte ich sie wie ein Spielzeug.
Den Hahn, den Abzug, das Kugellager, das schwarze, nach Fett riechende Loch des Laufs – voller Faszination streiche ich darüber.
Einmal in der Hand, will ich die Waffe am liebsten nicht mehr hergeben. Nur zögernd reiche ich sie Jim zurück, der sie mit sechs Patronen lädt. Das Kugellager schnappt zu, und selbst das Schnappen klingt elektrisierend. Er zieht den Hahn, richtet die Waffe auf einen der Teller und feuert sechs Schüsse hintereinander ab. Explosionsartige Donner rollen auf die dichte Waldwand zu und verhallen.
Kein Vogel singt mehr.
»Wow«, sage ich.
»Willst du?« Er lädt die Pistole mit sechs weiteren zeigefingerdicken Patronen made in Germany. Schließt das Kugellager und legt mir die Waffe in die Hände. Mein Herz klopft. Dann spüre ich das Gewicht in meinen Händen und werde erstaunlich gelassen, ja sogar ruhig.
»Mach dich auf den Rückschlag gefasst.«
Von Rückschlag hatte ich bei ihm nichts gesehen.
»Du musst sie kräftig mit beiden Händen umfassen.«
Ich schließe meine Hände um den Griff und strecke meine Arme aus. Ich ziele auf einen der Teller. Ich ziehe den Hahn und berühre den Abzug mit dem Zeigefinger.
Der Schuss fällt, und die Waffe schnellt 45 Grad nach oben. Ich muss einen Schritt zurücktreten, um die Wucht aufzufangen. Von den Fingerspitzen bis in die Handballen vibriert die Hitze.
Mit offenem Mund stehe ich da, meine erste Frage ist: »Habe ich getroffen?«
»O ja. Ziemlich gut sogar.«
Die Waffe ist warm. Jim steht, die Arme verschränkt, breitbeinig neben mir. Unsere Schatten liegen in die Länge gezogen auf dem Gras. Ich ziele erneut auf den Teller.
Er wackelt.
Ich schieße noch mal auf einen anderen, kleineren Teller.
Auch er wackelt.
Gut.
Ich feuere auf die Büchsen.
Sie wackeln nicht. Sand spritzt in die Luft.
Ich verfeuere die sechs Kugeln. Ich lasse die Arme sinken und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.
»Das ist ziemlich
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